Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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Mauern, wie ein jugendlicher Kranz um das Silberhaupt eines Greises. Man sah in die<br />
Unermeßlichkeit der Zeiten, und erblickte die weitesten Geschichten in kleine glänzende<br />
Minuten zusammengezogen, wenn man die grauen Steine, die blitzähnlichen Risse, und die<br />
hohen, schaurigen Gestalten betrachtete. So zeigt uns der Himmel unendliche Räume in<br />
dunkles Blau gekleidet und wie milchfarbne Schimmer, so unschuldig, wie die Wangen eines<br />
Kindes, die fernsten Heere seiner schweren ungeheuren Welten. Sie gingen durch ein altes<br />
Tor weg und der Pilger war nicht wenig erstaunt, als er sich nun <strong>von</strong> lauter seltenen<br />
Gewächsen umringt und die Reize des anmutigsten Gartens unter diesen Trümmern<br />
versteckt sah. Ein kleines steinernes Häuschen <strong>von</strong> neuer Bauart mit großen hellen Fenstern<br />
lag dahinter. Dort stand ein alter Mann hinter den breitblättrigen Stauden und band die<br />
schwanken Zweige an Stäbchen. Den Pilgrim führte seine Begleiterin zu ihm und sagte: »Hier<br />
ist <strong>Heinrich</strong> nach dem du mich oft gefragt hast.« Wie sich der Alte zu ihm wandte, glaubte<br />
<strong>Heinrich</strong> den Bergmann vor sich zu sehn. »Du siehst den Arzt Sylvester«, sagte das Mädchen.<br />
Sylvester freute sich ihn zu sehn, und sprach: »Es ist eine geraume Zeit her, daß ich deinen<br />
Vater eben so jung bei mir sah. Ich ließ es mir damals angelegen sein, ihn mit den Schätzen<br />
der Vorwelt, mit der kostbaren Hinterlassenschaft einer zu früh abgeschiedenen Welt<br />
bekannt zu machen. Ich bemerkte in ihm die Anzeichen eines großen Bildkünstlers. Sein<br />
Auge regte sich voll Lust ein wahres Auge, ein schaffendes Werkzeug zu werden. Sein<br />
Gesicht zeugte <strong>von</strong> innrer Festigkeit und ausdauerndem Fleiß. Aber die gegenwärtige Welt<br />
hatte zu tiefe Wurzeln schon bei ihm geschlagen. Er wollte nicht Achtung geben auf den Ruf<br />
seiner eigensten Natur. Die trübe Strenge seines vaterländischen Himmels hatte die zarten<br />
Spitzen der edelsten Pflanzen in ihm verdorben. Er ward ein geschickter Handwerker und die<br />
Begeisterung ist ihm zur Torheit geworden.«<br />
»Wohl«, versetzte <strong>Heinrich</strong>, »hab ich in ihm oft mit Schmerzen einen stillen Mißmut<br />
bemerkt. Er arbeitet unaufhörlich aus Gewohnheit und nicht aus innerer Lust. Es scheint ihm<br />
etwas zu fehlen, was die friedliche Stille seines Lebens, die Bequemlichkeiten seines<br />
Auskommens, die Freude sich geehrt und geliebt <strong>von</strong> seinen Mitbürgern zu sehn und in allen<br />
Stadtangelegenheiten zu Rate gezogen zu werden, ihm nicht ersetzen kann. Seine Bekannten<br />
halten ihn für sehr glücklich, aber sie wissen nicht, wie lebenssatt er ist, wie leer ihm oft die<br />
Welt vorkommt, wie sehnlich er sich hinwegwünscht, und wie er nicht aus Erwerbslust,<br />
sondern um diese Stimmung zu verscheuchen, so fleißig arbeitet.«<br />
»Was mich am Meisten wundert«, versetzte Sylvester, »daß er Eure Erziehung ganz in den<br />
Händen Eurer Mutter gelassen hat und sorgfältig sich gehütet in Eure Entwicklung sich zu<br />
mischen oder Euch zu irgend einem bestimmten Stande anzuhalten. Ihr habt <strong>von</strong> Glück zu<br />
sagen, daß Ihr habt aufwachsen dürfen, ohne <strong>von</strong> Euren Eltern die mindeste Beschränkung<br />
zu leiden, denn die meisten Menschen sind nur Überbleibsel eines vollen Gastmahls, das<br />
Menschen <strong>von</strong> verschiednem Appetit und Geschmack geplündert haben.«<br />
»Ich weiß selbst nicht«, erwiderte <strong>Heinrich</strong>, »was Erziehung heißt, wenn es nicht das Leben<br />
und die Sinnesweise meiner Eltern ist, oder der Unterricht meines Lehrers des Hofkaplans.<br />
Mein Vater scheint mir, bei aller seiner kühlen und durchaus festen Denkungsart, die ihn alle<br />
Verhältnisse, wie ein Stück Metall und eine künstliche Arbeit ansehn läßt, doch unwillkürlich<br />
und ohne es daher selbst zu wissen, eine stille Ehrfurcht und Gottesfurcht vor allen<br />
unbegreiflichen und höhern Erscheinungen zu haben, und daher das Aufblühen eines Kindes<br />
mit demütiger Selbstverleugnung zu betrachten. Ein Geist ist hier geschäftig, der frisch aus<br />
der unendlichen Quelle kommt und dieses Gefühl der Überlegenheit eines Kindes in den<br />
allerhöchsten Dingen, der unwiderstehliche Gedanke einer nähern Führung dieses<br />
unschuldigen Wesens, das jetzt im Begriff steht eine so bedenkliche Laufbahn anzutreten,