Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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königliche Stadt und ihre Reichtümer. Im Hofe sprang der lebendiggewordne Quell, der Hain<br />
bewegte sich mit den süßesten Tönen, und ein wunderbares Leben schien in seinen heißen<br />
Stämmen und Blättern, in seinen funkelnden Blumen und Früchten zu quellen und zu<br />
treiben. Der alte Held empfing sie an den Toren des Palastes. ›Ehrwürdiger Alter‹, sagte<br />
Fabel, ›Eros bedarf dein Schwert. Gold hat ihm eine Kette gegeben, die mit einem Ende in<br />
das Meer hinunterreicht, und mit dem andern um seine Brust geschlungen ist. Fasse sie mit<br />
mir an, und führe uns in den Saal, wo die Prinzessin ruht.‹ Eros nahm aus der Hand des Alten<br />
das Schwert, setzte den Knopf auf seine Brust, und neigte die Spitze vorwärts. Die<br />
Flügeltüren des Saals flogen auf, und Eros nahte sich entzückt der schlummernden Freya.<br />
Plötzlich geschah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Funken fuhr <strong>von</strong> der Prinzessin nach dem<br />
Schwerte; das Schwert und die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beinah<br />
umgesunken wäre. Eros' Helmbusch wallte empor, ›Wirf das Schwert weg‹, rief Fabel, ›und<br />
erwecke deine Geliebte.‹ Eros ließ das Schwert fallen, flog auf die Prinzessin zu, und küßte<br />
feurig ihre süßen Lippen. Sie schlug ihre großen dunkeln Augen auf, und erkannte den<br />
Geliebten. Ein langer Kuß versiegelte den ewigen Bund.<br />
Von der Kuppel herunter kam der König mit Sophien an der Hand. Die Gestirne und die<br />
Geister der Natur folgten in glänzenden Reihen. Ein unaussprechlich heitrer Tag erfüllte den<br />
Saal, den Palast, die Stadt, und den Himmel. Eine zahllose Menge ergoß sich in den weiten<br />
königlichen Saal, und sah mit stiller Andacht die Liebenden vor dem Könige und der Königin<br />
knien, die sie feierlich segneten. Der König nahm sein Diadem vom Haupte, und band es um<br />
Eros goldene Locken. Der alte Held zog ihm die Rüstung ab, und der König warf seinen<br />
Mantel um ihn her. Dann gab er ihm die Lilie in die linke Hand, und Sophie knüpfte ein<br />
köstliches Armband um die verschlungenen Hände der Liebenden, indem sie zugleich ihre<br />
Krone auf Freyas braune Haare setzte.<br />
›Heil unsern alten Beherrschern‹, rief das Volk. ›Sie haben immer unter uns gewohnt, und<br />
wir haben sie nicht erkannt! Heil uns! Sie werden uns ewig beherrschen! Segnet uns auch!‹<br />
Sophie sagte zu der neuen Königin: ›Wirf du das Armband eures Bundes in die Luft, daß das<br />
Volk und die Welt euch verbunden bleiben.‹ Das Armband zerfloß in der Luft, und bald sah<br />
man lichte Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog sich über die Stadt und das<br />
Meer und die Erde, die ein ewiges Fest des Frühlings feierte. Perseus trat herein, und trug<br />
eine Spindel und ein Körbchen. Er brachte dem neuen Könige das Körbchen. ›Hier‹, sagte er,<br />
›sind die Reste deiner Feinde.‹ Eine steinerne Platte mit schwarzen und weißen Feldern lag<br />
darin, und daneben eine Menge Figuren <strong>von</strong> Alabaster und schwarzem Marmor. ›Es ist ein<br />
Schachspiel‹, sagte Sophie; ›aller Krieg ist auf diese Platte und in diese Figuren gebannt. Es<br />
ist ein Denkmal der alten trüben Zeit.‹ Perseus wandte sich zu Fabel, und gab ihr die Spindel.<br />
›In deinen Händen wird diese Spindel uns ewig erfreuen, und aus dir selbst wirst du uns<br />
einen goldnen unzerreißlichen Faden spinnen.‹ Der Phönix flog mit melodischem Geräusch<br />
zu ihren Füßen, spreizte seine Fittiche vor ihr aus, auf die sie sich setzte, und schwebte mit<br />
ihr über den Thron, ohne sich wieder niederzulassen. Sie sang ein himmlisches Lied, und fing<br />
zu spinnen an, indem der Faden aus ihrer Brust sich hervorzuwinden schien. Das Volk geriet<br />
in neues Entzücken, und aller Augen hingen an dem lieblichen Kinde. Ein neues Jauchzen<br />
kam <strong>von</strong> der Tür her. Der alte Mond kam mit seinem wunderlichen Hofstaat herein, und<br />
hinter ihm trug das Volk Ginnistan und ihren Bräutigam, wie im Triumph, einher.<br />
Sie waren mit Blumenkränzen umwunden; die königliche Familie empfing sie mit der<br />
herzlichsten Zärtlichkeit, und das neue Königspaar rief sie zu seinen Statthaltern auf Erden<br />
aus.