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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Eros stand gerührt bei den zärtlichen Umarmungen. Endlich sammelte sich der alte<br />

erschütterte Mann, und bewillkommte seinen Gast. Er ergriff sein großes Horn und stieß mit<br />

voller Macht hinein. Ein gewaltiger Ruf dröhnte durch die uralte Burg. Die spitzen Türme mit<br />

ihren glänzenden Knöpfen und die tiefen schwarzen Dächer schwankten. Die Burg stand still,<br />

denn sie war auf das Gebirge jenseits des Meers gekommen. Von allen Seiten strömten seine<br />

Diener herzu, deren seltsame Gestalten und Trachten Ginnistan unendlich ergötzten, und<br />

den tapfern Eros nicht erschreckten. Erstere grüßte ihre alten Bekannten, und alle<br />

erschienen vor ihr mit neuer Stärke und in der ganzen Herrlichkeit ihrer Naturen. Der<br />

ungestüme Geist der Flut folgte der sanften Ebbe. Die alten Orkane legten sich an die<br />

klopfende Brust der heißen leidenschaftlichen Erdbeben. Die zärtlichen Regenschauer sahen<br />

sich nach dem bunten Bogen um, der <strong>von</strong> der Sonne, die ihn mehr anzieht, entfernt, bleich<br />

dastand. Der rauhe Donner schalt über die Torheiten der Blitze, hinter den unzähligen<br />

Wolken hervor, die mit tausend Reizen dastanden und die feurigen Jünglinge lockten. Die<br />

beiden lieblichen Schwestern, Morgen und Abend, freuten sich vorzüglich über die beiden<br />

Ankömmlinge. Sie weinten sanfte Tränen in ihren Umarmungen. Unbeschreiblich war der<br />

Anblick dieses wunderlichen Hofstaats. Der alte König konnte sich an seiner Tochter nicht<br />

satt sehen. Sie fühlte sich zehnfach glücklich in ihrer väterlichen Burg, und ward nicht müde<br />

die bekannten Wunder und Seltenheiten zu beschauen. Ihre Freude war ganz<br />

unbeschreiblich, als ihr der König den Schlüssel zur Schatzkammer und die Erlaubnis gab, ein<br />

Schauspiel für Eros darin zu veranstalten, das ihn so lange unterhalten könnte, bis das<br />

Zeichen des Aufbruchs gegeben würde. Die Schatzkammer war ein großer Garten, dessen<br />

Mannigfaltigkeit und Reichtum alle Beschreibung übertraf. Zwischen den ungeheuren<br />

Wetterbäumen lagen unzählige Luftschlösser <strong>von</strong> überraschender Bauart, eins immer<br />

köstlicher, als das andere. Große Herden <strong>von</strong> Schäfchen, mit silberweißer, goldner und<br />

rosenfarbner Wolle irrten umher, und die sonderbarsten Tiere belebten den Hain.<br />

Merkwürdige Bilder standen hie und da, und die festlichen Aufzüge, die seltsamen Wagen,<br />

die überall zum Vorschein kamen, beschäftigten die Aufmerksamkeit unaufhörlich. Die Beete<br />

standen voll der buntesten Blumen. Die Gebäude waren gehäuft voll <strong>von</strong> Waffen aller Art,<br />

voll der schönsten Teppiche, Tapeten, Vorhänge, Trinkgeschirre und aller Arten <strong>von</strong> Geräten<br />

und Werkzeugen, in unübersehlichen Reihen. Auf einer Anhöhe erblickten sie ein<br />

romantisches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tempeln und Begräbnissen übersäet<br />

war, und alle Anmut bewohnter Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einöde und<br />

schroffer Felsengegenden vereinigte. Die schönsten Farben waren in den glücklichsten<br />

Mischungen. Die Bergspitzen glänzten wie Luftfeuer in ihren Eis- und Schneehüllen. Die<br />

Ebene lachte im frischesten Grün. Die Ferne schmückte sich mit allen Veränderungen <strong>von</strong><br />

Blau, und aus der Dunkelheit des Meeres wehten unzählige bunte Wimpel <strong>von</strong> zahlreichen<br />

Flotten. Hier sah man einen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländliches fröhliches<br />

Mahl <strong>von</strong> Landleuten; dort den schrecklich schönen Ausbruch eines Vulkans, die<br />

Verwüstungen des Erdbebens, und im Vordergrunde ein liebendes Paar unter schattenden<br />

Bäumen in den süßesten Liebkosungen. Abwärts eine fürchterliche Schlacht, und unter ihr<br />

ein Theater voll der lächerlichsten Masken. Nach einer andern Seite im Vordergrunde einen<br />

jugendlichen Leichnam auf der Bahre, die ein trostloser Geliebter festhielt, und die<br />

weinenden Eltern daneben; im Hintergrunde eine liebliche Mutter mit dem Kinde an der<br />

Brust und Engel sitzend zu ihren Füßen, und aus den Zweigen über ihrem Haupte<br />

herunterblickend. Die Szenen verwandelten sich unaufhörlich, und flossen endlich in eine<br />

große geheimnisvolle Vorstellung zusammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr.<br />

Alle Schrecken waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme rief zu den Waffen. Ein<br />

entsetzliches Heer <strong>von</strong> Totengerippen, mit schwarzen Fahnen, kam wie ein Sturm <strong>von</strong>

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