Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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»Habt Ihr Lust, mit mir vor der Stadt auf einer schönen Anhöhe zu frühstücken?« sagte<br />
Klingsohr. »Der herrliche Morgen wird Euch erfrischen. Kleidet Euch an. Mathilde wartet<br />
schon auf uns.«<br />
<strong>Heinrich</strong> dankte mit tausend Freuden für diese willkommene Einladung. In einem<br />
Augenblick war er fertig, und küßte Klingsohr mit vieler Inbrunst die Hand.<br />
Sie gingen zu Mathilden, die in ihrem einfachen Morgenkleide wunderlieblich aussah und<br />
ihn freundlich grüßte. Sie hatte schon das Frühstück in ein Körbchen gepackt, das sie an den<br />
einen Arm hing, und die andere Hand unbefangen <strong>Heinrich</strong>en reichte. Klingsohr folgte ihnen,<br />
und so wandelten sie durch die Stadt, die schon voller Lebendigkeit war, nach einem kleinen<br />
Hügel am Flusse, wo sich unter einigen hohen Bäumen eine weite und volle Aussicht öffnete.<br />
»Habe ich doch schon oft«, rief <strong>Heinrich</strong> aus, »mich an dem Aufgang der bunten Natur, an<br />
der friedlichen Nachbarschaft ihres mannigfaltigen Eigentums ergötzt; aber eine so<br />
schöpferische und gediegene Heiterkeit hat mich noch nie erfüllt wie heute. Jene Fernen<br />
sind mir so nah, und die reiche Landschaft ist mir wie eine innere Phantasie. Wie<br />
veränderlich ist die Natur, so unwandelbar auch ihre Oberfläche zu sein scheint. Wie anders<br />
ist sie, wenn ein Engel, wenn ein kräftiger Geist neben uns ist, als wenn ein Notleidender vor<br />
uns klagt, oder ein Bauer uns erzählt, wie ungünstig die Witterung ihm sei, und wie nötig er<br />
düstre Regentage für seine Saat brauche. Euch, teuerster Meister, bin ich dieses Vergnügen<br />
schuldig; ja dieses Vergnügen, denn es gibt kein anderes Wort, was wahrhafter den Zustand<br />
meines Herzens ausdrückte. Freude Lust und Entzücken sind nur die Glieder des Vergnügens,<br />
das sie zu einem höhern Leben verknüpft.« Er drückte Mathildens Hand an sein Herz, und<br />
versank mit einem feurigen Blick in ihr mildes, empfängliches Auge.<br />
»Die Natur«, versetzte Klingsohr, »ist für unser Gemüt, was ein Körper für das Licht ist. Er<br />
hält es zurück; er bricht es in eigentümliche Farben; er zündet auf seiner Oberfläche oder in<br />
seinem Innern ein Licht an, das, wenn es seiner Dunkelheit gleich kommt, ihn klar und<br />
durchsichtig macht, wenn es sie überwiegt, <strong>von</strong> ihm ausgeht, um andere Körper zu<br />
erleuchten. Aber selbst der dunkelste Körper kann durch Wasser, Feuer und Luft dahin<br />
gebracht werden, daß er hell und glänzend wird.«<br />
»Ich verstehe Euch, lieber Meister. Die Menschen sind Kristalle für unser Gemüt. Sie sind<br />
die durchsichtige Natur. Liebe Mathilde, ich möchte Euch einen köstlichen lautern Sapphir<br />
nennen. Ihr seid klar und durchsichtig wie der Himmel, Ihr erleuchtet mit dem mildesten<br />
Lichte. Aber sagt mir, lieber Meister, ob ich recht habe: mich dünkt, daß man gerade wenn<br />
man am innigsten mit der Natur vertraut ist am wenigsten <strong>von</strong> ihr sagen könnte und<br />
möchte.«<br />
»Wie man das nimmt«, versetzte Klingsohr; »ein anderes ist es mit der Natur für unsern<br />
Genuß und unser Gemüt, ein anderes mit der Natur für unsern Verstand, für das leitende<br />
Vermögen unserer Weltkräfte. Man muß sich wohl hüten, nicht eins über das andere zu<br />
vergessen. Es gibt viele, die nur die eine Seite kennen und die andere gering schätzen. Aber<br />
beide kann man vereinigen, und man wird sich wohl dabei befinden. Schade, daß so wenige<br />
darauf denken, sich in ihrem Innern frei und geschickt bewegen zu können, und durch eine<br />
gehörige Trennung sich den zweckmäßigsten und natürlichsten Gebrauch ihrer<br />
Gemütskräfte zu sichern. Gewöhnlich hindert eine die andere, und so entsteht allmählich<br />
eine unbehülfliche Trägheit, daß wenn nun solche Menschen einmal mit gesamten Kräften<br />
aufstehen wollen, eine gewaltige Verwirrung und Streit beginnt, und alles übereinander<br />
ungeschickt herstolpert. Ich kann Euch nicht genug anrühmen, Euren Verstand, Euren<br />
natürlichen Trieb zu wissen, wie alles sich begibt und untereinander nach Gesetzen der Folge