Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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Nachmittags führte Klingsohr seinen neuen Sohn, an dessen Glück seine Mutter und<br />
Großvater den zärtlichsten Anteil nahmen, und Mathilden wie seinen Schutzgeist verehrten,<br />
in seine Stube, und machte ihn mit den Büchern bekannt. Sie sprachen nachher <strong>von</strong> Poesie.<br />
»Ich weiß nicht«, sagte Klingsohr, »warum man es für Poesie nach gemeiner Weise hält,<br />
wenn man die Natur für einen Poeten ausgibt. Sie ist es nicht zu allen Zeiten. Es ist in ihr, wie<br />
in dem Menschen, ein entgegengesetztes Wesen, die dumpfe Begierde und die stumpfe<br />
Gefühllosigkeit und Trägheit, die einen rastlosen Streit mit der Poesie führen. Er wäre ein<br />
schöner Stoff zu einem Gedicht, dieser gewaltige Kampf. Manche Länder und Zeiten<br />
scheinen, wie die meisten Menschen, ganz unter der Botmäßigkeit dieser Feindin der Poesie<br />
zu stehen, dagegen in andern die Poesie einheimisch und überall sichtbar ist. Für den<br />
Geschichtschreiber sind die Zeiten dieses Kampfes äußerst merkwürdig, ihre Darstellung ein<br />
reizendes und belohnendes Geschäft. Es sind gewöhnlich die Geburtszeiten der Dichter. Der<br />
Widersacherin ist nichts unangenehmer, als daß sie der Poesie gegenüber selbst zu einer<br />
poetischen Person wird, und nicht selten in der Hitze die Waffen mit ihr tauscht, und <strong>von</strong><br />
ihrem eigenen heimtückischen Geschosse heftig getroffen wird, dahingegen die Wunden der<br />
Poesie, die sie <strong>von</strong> ihren eigenen Waffen erhält, leicht heilen und sie nur noch reizender und<br />
gewaltiger machen.«<br />
»Der Krieg überhaupt«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute<br />
glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß<br />
sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu<br />
vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer<br />
unsichtbaren Fahne.«<br />
»Im Kriege«, versetzte Klingsohr, »regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen<br />
entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg<br />
ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen<br />
erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß<br />
entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren<br />
Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich <strong>von</strong><br />
Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein<br />
göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.«<br />
»Wie versteht Ihr das, lieber Vater?« sagte <strong>Heinrich</strong>. »Kann ein Gegenstand zu<br />
überschwenglich für die Poesie sein?«<br />
»Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen, für die Poesie, sondern nur für unsere<br />
irdischen Mittel und Werkzeuge. Wenn es schon für einen einzelnen Dichter nur ein<br />
eigentümliches Gebiet gibt, innerhalb dessen er bleiben muß, um nicht alle Haltung und den<br />
Atem zu verlieren: so gibt es auch für die ganze Summe menschlicher Kräfte eine bestimmte<br />
Grenze der Darstellbarkeit, über welche hinaus die Darstellung die nötige Dichtigkeit und<br />
Gestaltung nicht behalten kann, und in ein leeres täuschendes Unding sich verliert.<br />
Besonders als Lehrling kann man nicht genug sich vor diesen Ausschweifungen hüten, da<br />
eine lebhafte Phantasie nur gar zu gern nach den Grenzen sich begibt, und übermütig das<br />
Unsinnliche, Übermäßige zu ergreifen und auszusprechen sucht. Reifere Erfahrung lehrt erst,<br />
jene Unverhältnismäßigkeit der Gegenstände zu vermeiden, und die Aufspürung des<br />
Einfachsten und Höchsten der Weltweisheit zu überlassen. Der ältere Dichter steigt nicht<br />
höher, als er es gerade nötig hat, um seinen mannigfaltigen Vorrat in eine leichtfaßliche<br />
Ordnung zu stellen, und hütet sich wohl, die Mannigfaltigkeit zu verlassen, die ihm Stoff<br />
genug und auch die nötigen Vergleichungspunkte darbietet. ich möchte fast sagen, das<br />
Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern. Den