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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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unzählige Lichterchen sichtbar, die aus der Türspalte schlüpften und durch die Höhle in<br />

scheußlichen Larven sich verbreiteten. Die Alten hatten während der Zeit immer mürrisch<br />

fortgesponnen, und auf das Jammergeschrei der kleinen Fabel gewartet, aber wie entsetzten<br />

sie sich, als auf einmal eine erschreckliche Nase über ihre Schultern guckte, und wie sie sich<br />

umsahen, die ganze Höhle voll der gräßlichsten Figuren war, die tausenderlei Unfug trieben.<br />

Sie fuhren ineinander, heulten mit fürchterlicher Stimme, und wären vor Schrecken zu Stein<br />

geworden, wenn nicht in diesem Augenblicke der Schreiber in die Höhle getreten wäre, und<br />

eine Alraunwurzel bei sich gehabt hätte. Die Lichterchen verkrochen sich in die Felsklüfte<br />

und die Höhle wurde ganz hell, weil die schwarze Lampe in der Verwirrung umgefallen und<br />

ausgelöscht war. Die Alten waren froh, wie sie den Schreiber kommen hörten, aber voll<br />

Ingrimms gegen die kleine Fabel. Sie riefen sie heraus, schnarchten sie fürchterlich an und<br />

verboten ihr fortzuspinnen. Der Schreiber schmunzelte höhnisch, weil er die kleine Fabel nun<br />

in seiner Gewalt zu haben glaubte und sagte: ›Es ist gut, daß du hier bist und zur Arbeit<br />

angehalten werden kannst. Ich hoffe, daß es an Züchtigungen nicht fehlen soll. Dein guter<br />

Geist hat dich hergeführt. Ich wünsche dir langes Leben und viel Vergnügen.‹ – ›Ich danke dir<br />

für deinen guten Willen‹, sagte Fabel; ›man sieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt nur noch<br />

das Stundenglas und die Hippe, so siehst du ganz wie der Bruder meiner schönen Basen aus.<br />

Wenn du Gänsespulen brauchst, so zupfe ihnen nur eine Handvoll zarten Flaum aus den<br />

Wangen.‹ Der Schreiber schien Miene zu machen, über sie herzufallen. Sie lächelte und<br />

sagte: ›Wenn dir dein schöner Haarwuchs und dein geistreiches Auge lieb sind, so nimm dich<br />

in acht; bedenke meine Nägel, du hast nicht viel mehr zu verlieren.‹ Er wandte sich mit<br />

verbißner Wut zu den Alten, die sich die Augen wischten, und nach ihren Wocken<br />

umhertappten. Sie konnten nichts finden, da die Lampe ausgelöscht war, und ergossen sich<br />

in Schimpfreden gegen Fabel. ›Laßt sie doch gehn‹, sprach er tückisch, ›daß sie euch<br />

Taranteln fange, zur Bereitung eures Öls. Ich wollte euch zu eurem Troste sagen, daß Eros<br />

ohne Rast umherfliegt, und eure Schere fleißig beschäftigen wird. Seine Mutter, die euch so<br />

oft zwang, die Fäden länger zu spinnen, wird morgen ein Raub der Flammen.‹ Er kitzelte sich,<br />

um zu lachen, wie er sah, daß Fabel einige Tränen bei dieser Nachricht vergoß, gab ein Stück<br />

<strong>von</strong> der Wurzel der Alten, und ging naserümpfend <strong>von</strong> dannen. Die Schwestern hießen der<br />

Fabel mit zorniger Stimme Taranteln suchen, ohngeachtet sie noch Öl vorrätig hatten, und<br />

Fabel eilte fort. Sie tat, als öffne sie das Tor, warf es ungestüm wieder zu, und schlich sich<br />

leise nach dem Hintergrunde der Höhle, wo eine Leiter herunterhing. Sie kletterte schnell<br />

hinauf, und kam bald vor eine Falltür, die sich in Arcturs Gemach öffnete.<br />

Der König saß umringt <strong>von</strong> seinen Räten, als Fabel erschien. Die nördliche Krone zierte sein<br />

Haupt. Die Lilie hielt er mit der Linken, die Waage in der Rechten. Der Adler und Löwe sagen<br />

zu seinen Füßen. ›Monarch‹, sagte die Fabel, indem sie sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigte;<br />

›Heil deinem festgegründeten Throne! frohe Botschaft deinem verwundeten Herzen! baldige<br />

Rückkehr der Weisheit! Ewiges Erwachen dem Frieden! Ruhe der rastlosen Liebe! Verklärung<br />

des Herzens! Leben dem Altertum und Gestalt der Zukunft!‹ Der König berührte ihre offene<br />

Stirn mit der Lilie: ›Was du bittest, sei dir gewährt.‹ – ›Dreimal werde ich bitten, wenn ich<br />

zum vierten Male komme, so ist die Liebe vor der Tür. Jetzt gib mir die Leier.‹ – ›Eridanus!<br />

bringe sie her‹, rief der König. Rauschend strömte Eridanus <strong>von</strong> der Decke, und Fabel zog die<br />

Leier aus seinen blinkenden Fluten.<br />

Fabel tat einige weissagende Griffe; der König ließ ihr den Becher reichen, aus dem sie<br />

nippte und mit vielen Danksagungen hinweg eilte. Sie glitt in reizenden Bogenschwüngen<br />

über das Eismeer, indem sie fröhliche Musik aus den Saiten lockte.

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