Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
unzählige Lichterchen sichtbar, die aus der Türspalte schlüpften und durch die Höhle in<br />
scheußlichen Larven sich verbreiteten. Die Alten hatten während der Zeit immer mürrisch<br />
fortgesponnen, und auf das Jammergeschrei der kleinen Fabel gewartet, aber wie entsetzten<br />
sie sich, als auf einmal eine erschreckliche Nase über ihre Schultern guckte, und wie sie sich<br />
umsahen, die ganze Höhle voll der gräßlichsten Figuren war, die tausenderlei Unfug trieben.<br />
Sie fuhren ineinander, heulten mit fürchterlicher Stimme, und wären vor Schrecken zu Stein<br />
geworden, wenn nicht in diesem Augenblicke der Schreiber in die Höhle getreten wäre, und<br />
eine Alraunwurzel bei sich gehabt hätte. Die Lichterchen verkrochen sich in die Felsklüfte<br />
und die Höhle wurde ganz hell, weil die schwarze Lampe in der Verwirrung umgefallen und<br />
ausgelöscht war. Die Alten waren froh, wie sie den Schreiber kommen hörten, aber voll<br />
Ingrimms gegen die kleine Fabel. Sie riefen sie heraus, schnarchten sie fürchterlich an und<br />
verboten ihr fortzuspinnen. Der Schreiber schmunzelte höhnisch, weil er die kleine Fabel nun<br />
in seiner Gewalt zu haben glaubte und sagte: ›Es ist gut, daß du hier bist und zur Arbeit<br />
angehalten werden kannst. Ich hoffe, daß es an Züchtigungen nicht fehlen soll. Dein guter<br />
Geist hat dich hergeführt. Ich wünsche dir langes Leben und viel Vergnügen.‹ – ›Ich danke dir<br />
für deinen guten Willen‹, sagte Fabel; ›man sieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt nur noch<br />
das Stundenglas und die Hippe, so siehst du ganz wie der Bruder meiner schönen Basen aus.<br />
Wenn du Gänsespulen brauchst, so zupfe ihnen nur eine Handvoll zarten Flaum aus den<br />
Wangen.‹ Der Schreiber schien Miene zu machen, über sie herzufallen. Sie lächelte und<br />
sagte: ›Wenn dir dein schöner Haarwuchs und dein geistreiches Auge lieb sind, so nimm dich<br />
in acht; bedenke meine Nägel, du hast nicht viel mehr zu verlieren.‹ Er wandte sich mit<br />
verbißner Wut zu den Alten, die sich die Augen wischten, und nach ihren Wocken<br />
umhertappten. Sie konnten nichts finden, da die Lampe ausgelöscht war, und ergossen sich<br />
in Schimpfreden gegen Fabel. ›Laßt sie doch gehn‹, sprach er tückisch, ›daß sie euch<br />
Taranteln fange, zur Bereitung eures Öls. Ich wollte euch zu eurem Troste sagen, daß Eros<br />
ohne Rast umherfliegt, und eure Schere fleißig beschäftigen wird. Seine Mutter, die euch so<br />
oft zwang, die Fäden länger zu spinnen, wird morgen ein Raub der Flammen.‹ Er kitzelte sich,<br />
um zu lachen, wie er sah, daß Fabel einige Tränen bei dieser Nachricht vergoß, gab ein Stück<br />
<strong>von</strong> der Wurzel der Alten, und ging naserümpfend <strong>von</strong> dannen. Die Schwestern hießen der<br />
Fabel mit zorniger Stimme Taranteln suchen, ohngeachtet sie noch Öl vorrätig hatten, und<br />
Fabel eilte fort. Sie tat, als öffne sie das Tor, warf es ungestüm wieder zu, und schlich sich<br />
leise nach dem Hintergrunde der Höhle, wo eine Leiter herunterhing. Sie kletterte schnell<br />
hinauf, und kam bald vor eine Falltür, die sich in Arcturs Gemach öffnete.<br />
Der König saß umringt <strong>von</strong> seinen Räten, als Fabel erschien. Die nördliche Krone zierte sein<br />
Haupt. Die Lilie hielt er mit der Linken, die Waage in der Rechten. Der Adler und Löwe sagen<br />
zu seinen Füßen. ›Monarch‹, sagte die Fabel, indem sie sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigte;<br />
›Heil deinem festgegründeten Throne! frohe Botschaft deinem verwundeten Herzen! baldige<br />
Rückkehr der Weisheit! Ewiges Erwachen dem Frieden! Ruhe der rastlosen Liebe! Verklärung<br />
des Herzens! Leben dem Altertum und Gestalt der Zukunft!‹ Der König berührte ihre offene<br />
Stirn mit der Lilie: ›Was du bittest, sei dir gewährt.‹ – ›Dreimal werde ich bitten, wenn ich<br />
zum vierten Male komme, so ist die Liebe vor der Tür. Jetzt gib mir die Leier.‹ – ›Eridanus!<br />
bringe sie her‹, rief der König. Rauschend strömte Eridanus <strong>von</strong> der Decke, und Fabel zog die<br />
Leier aus seinen blinkenden Fluten.<br />
Fabel tat einige weissagende Griffe; der König ließ ihr den Becher reichen, aus dem sie<br />
nippte und mit vielen Danksagungen hinweg eilte. Sie glitt in reizenden Bogenschwüngen<br />
über das Eismeer, indem sie fröhliche Musik aus den Saiten lockte.