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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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ei seinen nähern Schritten, das Gepräge einer wunderbaren Welt, was noch keine irdische<br />

Flut unkenntlich gemacht hat, und endlich die Sympathie der Selbsterinnerung jener<br />

fabelhaften Zeiten, wo die Welt uns heller, freundlicher und seltsamer dünkte und der Geist<br />

der Weissagung fast sichtbar uns begleitete, alles dies hat meinen Vater gewiß zu der<br />

andächtigsten und bescheidensten Behandlung vermocht.«<br />

»Laß uns hieher auf die Rasenbank unter die Blumen setzen«, unterbrach ihn der Alte.<br />

»Zyane wird uns rufen, wenn unser Abendessen bereit ist, und wenn ich Euch bitten darf, so<br />

fahrt fort mir <strong>von</strong> Eurem frühern Leben etwas zu erzählen. Wir Alten hören am liebsten <strong>von</strong><br />

den Kinderjahren reden, und es dünkt mich, als ließt Ihr mich den Duft einer Blume einziehn,<br />

den ich seit meiner Kindheit nicht wieder eingeatmet hätte. Nur sagt mir noch vorher, wie<br />

Euch meine Einsiedelei und mein Garten gefällt, denn diese Blumen sind meine Freundinnen.<br />

Mein Herz ist in diesem Garten. Ihr seht nichts, was mich nicht liebt und <strong>von</strong> mir nicht<br />

zärtlich geliebt wird. Ich bin hier mitten unter meinen Kindern und komme mir vor, wie ein<br />

alter Baum, aus dessen Wurzeln diese muntre Jugend ausgeschlagen sei.«<br />

»Glücklicher Vater«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »Euer Garten ist die Welt. Ruinen sind die Mütter<br />

dieser blühenden Kinder. Die bunte, lebendige Schöpfung zieht ihre Nahrung aus den<br />

Trümmern vergangner Zeiten. Aber mußte die Mutter sterben, daß die Kinder gedeihen<br />

können, und bleibt der Vater zu ewigen Tränen allein an ihrem Grabe sitzen?«<br />

Sylvester reichte dem schluchzenden Jünglinge die Hand, und stand auf, um ihm ein eben<br />

aufgeblühtes Vergißmeinnicht zu holen, das er an einen Zypressenzweig band und ihm<br />

brachte. Wunderlich rührte der Abendwind die Wipfel der Kiefern, die jenseits den Ruinen<br />

standen. Ihr dumpfes Brausen tönte herüber. <strong>Heinrich</strong> verbarg sein Gesicht in Tränen an<br />

dem Halse des guten Sylvester, und wie er sich wieder erhob, trat eben der Abendstern in<br />

voller Glorie über den Wald herüber.<br />

Nach einiger Stille fing Sylvester an: »Ich möcht Euch wohl in Eisenach unter Euren<br />

Gespielen gesehn haben. Eure Eltern, die vortreffliche Landgräfin, die biedern Nachbarn<br />

Eures Vaters, und der alte Hofkaplan machen eine schöne Gesellschaft aus. Ihre Gespräche<br />

müssen frühzeitig auf Euch gewürkt haben, besonders da Ihr das einzige Kind wart. Auch<br />

stell ich mir die Gegend äußerst anmutig und bedeutsam vor.«<br />

»Ich lerne«, versetzte <strong>Heinrich</strong>, »meine Gegend erst recht kennen, seit ich weg bin und<br />

viele andre Gegenden gesehn habe. Jede Pflanze, jeder Baum, jeder Hügel und Berg hat<br />

seinen besondern Gesichtskreis, seine eigentümliche Gegend. Sie gehört zu ihm und sein<br />

Bau, seine ganze Beschaffenheit wird durch sie erklärt. Nur das Tier und der Mensch können<br />

zu allen Gegenden kommen; alle Gegenden sind die Ihrigen. So machen alle zusammen eine<br />

große Weltgegend, einen unendlichen Gesichtskreis aus, dessen Einfluß auf den Menschen<br />

und das Tier ebenso sichtbar ist, wie der Einfluß der engern Umgebung auf die Pflanze.<br />

Daher Menschen, die viel gereist sind, Zugvögel und Raubtiere, unter den übrigen sich durch<br />

besondern Verstand und andre wunderbare Gaben und Arten auszeichnen. Doch gibt es<br />

auch gewiß mehr oder weniger Fähigkeit unter ihnen, <strong>von</strong> diesen Weltkreisen und ihrem<br />

mannigfaltigen Inhalt und Ordnung gerührt, und gebildet zu werden. Auch fehlt bei den<br />

Menschen wohl manchen die nötige Aufmerksamkeit und Gelassenheit, um den Wechsel der<br />

Gegenstände und ihre Zusammenstellung erst gehörig zu betrachten, und dann darüber<br />

nachzudenken und die nötigen Vergleichungen anzustellen. Oft fühl ich jetzt, wie mein<br />

Vaterland meine frühsten Gedanken mit unvergänglichen Farben angehaucht hat, und sein<br />

Bild eine seltsame Andeutung meines Gemüts geworden ist, die ich immer mehr errate, je<br />

tiefer ich einsehe, daß Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffs sind.« »Auf mich«, sagte<br />

Sylvester, »hat freilich die lebendige Natur, die regsame Überkleidung der Gegend, immer

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