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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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wurden überhört. ›Du kannst sogleich reisen; Ginnistan mag dich begleiten‹, sagte Sophie;<br />

›sie weiß mit den Wegen Bescheid, und ist überall gut bekannt. Sie wird die Gestalt deiner<br />

Mutter annehmen, um dich nicht in Versuchung zu führen. Findest du den König, so denke<br />

an mich: dann komme ich um dir zu helfen.‹<br />

Ginnistan tauschte ihre Gestalt mit der Mutter, worüber der Vater sehr vergnügt zu sein<br />

schien; der Schreiber freute sich, daß die beiden fortgingen; besonders da ihm Ginnistan ihr<br />

Taschenbuch zum Abschiede schenkte, worin die Chronik des Hauses umständlich<br />

aufgezeichnet war; nur blieb ihm die kleine Fabel ein Dorn im Auge, und er hätte, um seiner<br />

Ruhe und Zufriedenheit willen, nichts mehr gewünscht, als daß auch sie unter der Zahl der<br />

Abreisenden sein möchte. Sophie segnete die Niederknienden ein, und gab ihnen ein Gefäß<br />

voll Wasser aus der Schale mit; die Mutter war sehr bekümmert. Die kleine Fabel wäre gern<br />

mitgegangen, und der Vater war zu sehr außer dem Hause beschäftigt, als daß er lebhaften<br />

Anteil hätte nehmen sollen. Es war Nacht, wie sie abreisten, und der Mond stand hoch am<br />

Himmel. ›Lieber Eros‹, sagte Ginnistan, ›wir müssen eilen, daß wir zu meinem Vater<br />

kommen, der mich lange nicht gesehn und so sehnsuchtsvoll mich überall auf der Erde<br />

gesucht hat. Siehst du wohl sein bleiches abgehärmtes Gesicht? Dein Zeugnis wird mich ihm<br />

in der fremden Gestalt kenntlich machen.‹<br />

Die Liebe ging auf dunkler Bahn<br />

Vom Monde nur erblickt,<br />

Das Schattenreich war aufgetan<br />

Und seltsam aufgeschmückt.<br />

Ein blauer Dunst umschwebte sie<br />

Mit einem goldnen Rand,<br />

Und eilig zog die Phantasie<br />

Sie über Strom und Land.<br />

Es hob sich ihre volle Brust<br />

In wunderbarem Mut;<br />

Ein Vorgefühl der künft'gen Lust<br />

Besprach die wilde Glut.<br />

Die Sehnsucht klagt' und wußt' es nicht,<br />

Daß Liebe näher kam,<br />

Und tiefer grub in ihr Gesicht<br />

Sich hoffnungsloser Gram.<br />

Die kleine Schlange blieb getreu:<br />

Sie wies nach Norden hin,<br />

Und beide folgten sorgenfrei<br />

Der schönen Führerin.<br />

Die Liebe ging durch Wüstenein<br />

Und durch der Wolken Land,<br />

Trat in den Hof des Mondes ein<br />

Die Tochter an der Hand.<br />

Er saß auf seinem Silberthron,<br />

Allein mit seinem Harm;<br />

Da hört' er seines Kindes Ton,<br />

Und sank in ihren Arm.

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