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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Das Eis gab unter ihren Tritten die herrlichsten Töne <strong>von</strong> sich. Der Felsen der Trauer hielt<br />

sie für Stimmen seiner suchenden rückkehrenden Kinder, und antwortete in einem<br />

tausendfachen Echo.<br />

Fabel hatte bald das Gestade erreicht. Sie begegnete ihrer Mutter, die abgezehrt und<br />

bleich aussah, schlank und ernst geworden war, und in edlen Zügen die Spuren eines<br />

hoffnungslosen Grams, und rührender Treue verriet.<br />

›Was ist aus dir geworden, liebe Mutter?‹ sagte Fabel, ›du scheinst mir gänzlich verändert;<br />

ohne inneres Anzeichen hätt' ich dich nicht erkannt. ich hoffte mich an deiner Brust einmal<br />

wieder zu erquicken; ich habe lange nach dir geschmachtet.‹ Ginnistan liebkoste sie zärtlich,<br />

und sah heiter und freundlich aus. ›Ich dachte es gleich‹, sagte sie, ›daß dich der Schreiber<br />

nicht würde gefangen haben. Dein Anblick erfrischt mich. Es geht mir schlimm und knapp<br />

genug, aber ich tröste mich bald. Vielleicht habe ich einen Augenblick Ruhe. Eros ist in der<br />

Nähe, und wenn er dich sieht, und du ihm vorplauderst, verweilt er vielleicht einige Zeit.<br />

Indes kannst du dich an meine Brust legen; ich will dir geben, was ich habe.‹ Sie nahm die<br />

Kleine auf den Schoß, reichte ihr die Brust, und fuhr fort, indem sie lächelnd auf die Kleine<br />

hinunter sah, die es sich gut schmecken ließ. ›Ich bin selbst Ursach, daß Eros so wild und<br />

unbeständig geworden ist. Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in<br />

seinen Armen zubrachte, haben mich zur Unsterblichen gemacht. Ich glaubte unter seinen<br />

feurigen Liebkosungen zu zerschmelzen. Wie ein himmlischer Räuber schien er mich<br />

grausam vernichten und stolz über sein bebendes Opfer triumphieren zu wollen. Wir<br />

erwachten spät aus dem verbotenen Rausche, in einem sonderbar vertauschten Zustande.<br />

Lange silberweiße Flügel bedeckten seine weißen Schultern, und die reizende Fülle und<br />

Biegung seiner Gestalt. Die Kraft, die ihn so plötzlich aus einem Knaben zum Jünglinge<br />

quellend getrieben, schien sich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er<br />

war wieder zum Knaben geworden. Die stille Glut seines Gesichts war in das tändelnde Feuer<br />

eines Irrlichts, der heilige Ernst in verstellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe in kindische<br />

Unstetigkeit, der edle Anstand in drollige Beweglichkeit verwandelt. Ich fühlte mich <strong>von</strong><br />

einer ernsthaften Leidenschaft unwiderstehlich zu dem mutwilligen Knaben gezogen, und<br />

empfang schmerzlich seinen lächelnden Hohn, und seine Gleichgültigkeit gegen meine<br />

rührendsten Bitten. Ich sah meine Gestalt verändert. Meine sorglose Heiterkeit war<br />

verschwunden, und hatte einer traurigen Bekümmernis, einer zärtlichen Schüchternheit<br />

Platz gemacht. Ich hätte mich mit Eros vor allen Augen verbergen mögen. Ich hatte nicht das<br />

Herz, in seine beleidigenden Augen zu sehn, und fühlte mich entsetzlich beschämt und<br />

erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken, als ihn, und hätte mein Leben hingegeben,<br />

um ihn <strong>von</strong> seinen Unarten zu befreien. Ich mußte ihn anbeten, so tief er auch alle meine<br />

Empfindungen kränkte.<br />

Seit der Zeit, wo er sich aufmachte und mir entfloh, so rührend ich auch mit den heißesten<br />

Tränen ihn beschwor, bei mir zu bleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er scheint es ordentlich<br />

darauf anzulegen, mich zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, so fliegt er tückisch weiter.<br />

Sein Bogen richtet überall Verwüstungen an. Ich habe nichts zu tun, als die Unglücklichen zu<br />

trösten, und habe doch selbst Trost nötig. Ihre Stimmen, die mich rufen, zeigen mir seinen<br />

Weg, und ihre wehmütigen Klagen, wenn ich sie wieder verlassen muß, gehen mir tief zu<br />

Herzen. Der Schreiber verfolgt uns mit entsetzlicher Wut, und rächt sich an den armen<br />

Getroffenen. Die Frucht jener geheimnisvollen Nacht, waren eine zahlreiche Menge<br />

wunderlicher Kinder, die ihrem Großvater ähnlich sehn, und nach ihm genannt sind.<br />

Geflügelt wie ihr Vater begleiten sie ihn beständig, und plagen die Armen, die sein Pfeil trifft.<br />

Doch da kömmt der fröhliche Zug. Ich muß fort; lebe wohl, süßes Kind. Seine Nähe erregt

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