Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Das Eis gab unter ihren Tritten die herrlichsten Töne <strong>von</strong> sich. Der Felsen der Trauer hielt<br />
sie für Stimmen seiner suchenden rückkehrenden Kinder, und antwortete in einem<br />
tausendfachen Echo.<br />
Fabel hatte bald das Gestade erreicht. Sie begegnete ihrer Mutter, die abgezehrt und<br />
bleich aussah, schlank und ernst geworden war, und in edlen Zügen die Spuren eines<br />
hoffnungslosen Grams, und rührender Treue verriet.<br />
›Was ist aus dir geworden, liebe Mutter?‹ sagte Fabel, ›du scheinst mir gänzlich verändert;<br />
ohne inneres Anzeichen hätt' ich dich nicht erkannt. ich hoffte mich an deiner Brust einmal<br />
wieder zu erquicken; ich habe lange nach dir geschmachtet.‹ Ginnistan liebkoste sie zärtlich,<br />
und sah heiter und freundlich aus. ›Ich dachte es gleich‹, sagte sie, ›daß dich der Schreiber<br />
nicht würde gefangen haben. Dein Anblick erfrischt mich. Es geht mir schlimm und knapp<br />
genug, aber ich tröste mich bald. Vielleicht habe ich einen Augenblick Ruhe. Eros ist in der<br />
Nähe, und wenn er dich sieht, und du ihm vorplauderst, verweilt er vielleicht einige Zeit.<br />
Indes kannst du dich an meine Brust legen; ich will dir geben, was ich habe.‹ Sie nahm die<br />
Kleine auf den Schoß, reichte ihr die Brust, und fuhr fort, indem sie lächelnd auf die Kleine<br />
hinunter sah, die es sich gut schmecken ließ. ›Ich bin selbst Ursach, daß Eros so wild und<br />
unbeständig geworden ist. Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in<br />
seinen Armen zubrachte, haben mich zur Unsterblichen gemacht. Ich glaubte unter seinen<br />
feurigen Liebkosungen zu zerschmelzen. Wie ein himmlischer Räuber schien er mich<br />
grausam vernichten und stolz über sein bebendes Opfer triumphieren zu wollen. Wir<br />
erwachten spät aus dem verbotenen Rausche, in einem sonderbar vertauschten Zustande.<br />
Lange silberweiße Flügel bedeckten seine weißen Schultern, und die reizende Fülle und<br />
Biegung seiner Gestalt. Die Kraft, die ihn so plötzlich aus einem Knaben zum Jünglinge<br />
quellend getrieben, schien sich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er<br />
war wieder zum Knaben geworden. Die stille Glut seines Gesichts war in das tändelnde Feuer<br />
eines Irrlichts, der heilige Ernst in verstellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe in kindische<br />
Unstetigkeit, der edle Anstand in drollige Beweglichkeit verwandelt. Ich fühlte mich <strong>von</strong><br />
einer ernsthaften Leidenschaft unwiderstehlich zu dem mutwilligen Knaben gezogen, und<br />
empfang schmerzlich seinen lächelnden Hohn, und seine Gleichgültigkeit gegen meine<br />
rührendsten Bitten. Ich sah meine Gestalt verändert. Meine sorglose Heiterkeit war<br />
verschwunden, und hatte einer traurigen Bekümmernis, einer zärtlichen Schüchternheit<br />
Platz gemacht. Ich hätte mich mit Eros vor allen Augen verbergen mögen. Ich hatte nicht das<br />
Herz, in seine beleidigenden Augen zu sehn, und fühlte mich entsetzlich beschämt und<br />
erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken, als ihn, und hätte mein Leben hingegeben,<br />
um ihn <strong>von</strong> seinen Unarten zu befreien. Ich mußte ihn anbeten, so tief er auch alle meine<br />
Empfindungen kränkte.<br />
Seit der Zeit, wo er sich aufmachte und mir entfloh, so rührend ich auch mit den heißesten<br />
Tränen ihn beschwor, bei mir zu bleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er scheint es ordentlich<br />
darauf anzulegen, mich zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, so fliegt er tückisch weiter.<br />
Sein Bogen richtet überall Verwüstungen an. Ich habe nichts zu tun, als die Unglücklichen zu<br />
trösten, und habe doch selbst Trost nötig. Ihre Stimmen, die mich rufen, zeigen mir seinen<br />
Weg, und ihre wehmütigen Klagen, wenn ich sie wieder verlassen muß, gehen mir tief zu<br />
Herzen. Der Schreiber verfolgt uns mit entsetzlicher Wut, und rächt sich an den armen<br />
Getroffenen. Die Frucht jener geheimnisvollen Nacht, waren eine zahlreiche Menge<br />
wunderlicher Kinder, die ihrem Großvater ähnlich sehn, und nach ihm genannt sind.<br />
Geflügelt wie ihr Vater begleiten sie ihn beständig, und plagen die Armen, die sein Pfeil trifft.<br />
Doch da kömmt der fröhliche Zug. Ich muß fort; lebe wohl, süßes Kind. Seine Nähe erregt