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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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am meisten gewirkt. Ich bin nicht müde geworden, besonders die verschiedene<br />

Pflanzennatur auf das sorgfältigste zu betrachten. Die Gewächse sind so die unmittelbarste<br />

Sprache des Bodens; jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimnis, was<br />

sich hervordrängt und das, weil es sich vor Liebe und Lust nicht bewegen und nicht zu<br />

Worten kommen kann, eine stumme, ruhige Pflanze wird. Findet man in der Einsamkeit eine<br />

solche Blume, ist es da nicht, als wäre alles umher verklärt und hielten sich die kleinen<br />

befiederten Töne am liebsten in ihrer Nähe auf. Man möchte für Freuden weinen, und<br />

abgesondert <strong>von</strong> der Welt nur seine Hände und Füße in die Erde stecken, um Wurzeln zu<br />

treiben und nie diese glückliche Nachbarschaft zu verlassen. Über die ganze trockne Welt ist<br />

dieser grüne, geheimnisvolle Teppich der Liebe gezogen. Mit jedem Frühjahr wird er<br />

erneuert und seine seltsame Schrift ist nur dem Geliebten lesbar wie der Blumenstrauß des<br />

Orients. Ewig wird er lesen und sich nicht satt lesen und täglich neue Bedeutungen, neue<br />

entzückendere Offenbarungen der liebenden Natur gewahr werden. Dieser unendliche<br />

Genuß ist der geheime Reiz, den die Begehung der Erdfläche für mich hat, indem mir jede<br />

Gegend andre Rätsel löst, und mich immer mehr erraten läßt, woher der Weg komme und<br />

wohin er gehe.«<br />

»Ja«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »wir haben <strong>von</strong> Kinderjahren angefangen zu reden, und <strong>von</strong> der<br />

Erziehung, weil wir in Eurem Garten waren und die eigentliche Offenbarung der Kindheit, die<br />

unschuldige Blumenwelt, unmerklich in unser Gedächtnis und auf unsre Lippen die<br />

Erinnerung der alten Blumenschaft brachte. Mein Vater ist auch ein großer Freund des<br />

Gartenlebens und die glücklichsten Stunden seines Lebens bringt er unter den Blumen zu.<br />

Dies hat auch gewiß seinen Sinn für die Kinder so offen erhalten, da Blumen die Ebenbilder<br />

der Kinder sind. Den vollen Reichtum des unendlichen Lebens, die gewaltigen Mächte der<br />

spätern Zeit, die Herrlichkeit des Weltendes und die goldne Zukunft aller Dinge sehn wir hier<br />

noch innig ineinander geschlungen, aber doch auf das deutlichste und klarste in zarter<br />

Verjüngung. Schon treibt die allmächtige Liebe, aber sie zündet noch nicht. Es ist keine<br />

verzehrende Flamme; es ist ein zerrinnender Duft; und so innig die Vereinigung der<br />

zärtlichen Seelen auch ist, so ist sie doch <strong>von</strong> keiner heftigen Bewegung und keiner<br />

fressenden Wut begleitet, wie bei den Tieren. So ist die Kindheit in der Tiefe zunächst an der<br />

Erde, da hingegen die Wolken vielleicht die Erscheinungen der zweiten, höhern Kindheit, des<br />

wiedergefundnen Paradieses sind, und darum so wohltätig auf die Erstere heruntertauen.«<br />

»Es ist gewiß etwas sehr Geheimnisvolles in den Wolken«, sagte Sylvester, »und eine<br />

gewisse Bewölkung hat oft einen ganz wunderbaren Einfluß auf uns. Sie ziehn und wollen<br />

uns mit ihrem kühlen Schatten auf und da<strong>von</strong> nehmen und wenn ihre Bildung lieblich und<br />

bunt, wie ein ausgehauchter Wunsch unsers Innern ist, so ist auch ihre Klarheit, das herrliche<br />

Licht, was dann auf Erden herrscht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unsäglichen<br />

Herrlichkeit. Aber es gibt auch düstre und ernste und entsetzliche Umwölkungen, in denen<br />

alle Schrecken der alten Nacht zu drohen scheinen. Nie scheint sich der Himmel wieder<br />

aufheitern zu wollen, das heitre Blau ist vertilgt und ein fahles Kupferrot auf schwarzgrauem<br />

Grunde weckt Grauen und Angst in jeder Brust. Wenn dann die verderblichen Strahlen<br />

herunterzucken und mit höhnischem Gelächter die schmetternden Donnerschläge<br />

hinterdreinfallen, so werden wir bis ins Innerste beängstigt, und wenn in uns dann nicht das<br />

erhabne Gefühl unsrer sittlichen Obermacht entsteht, so glauben wir den Schrecknissen der<br />

Hölle, der Gewalt böser Geister überliefert zu sein.<br />

Es sind Nachhalle der alten unmenschlichen Natur, aber auch weckende Stimmen der<br />

höhern Natur, des himmlischen Gewissens in uns. Das Sterbliche dröhnt in seinen<br />

Grundvesten, aber das Unsterbliche fängt heller zu leuchten an und erkennt sich selbst.«

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