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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; fühlte, was er durch sie geworden und was sie<br />

ihm werden würde, und begriff alle die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er<br />

schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte. Die Erzählung der Kaufleute <strong>von</strong> dem Jünglinge,<br />

der die Natur so emsig betrachtete, und der Eidam des Königs wurde, kam ihm wieder zu<br />

Gedanken, und tausend andere Erinnerungen seines Lebens knüpften sich <strong>von</strong> selbst an<br />

einen zauberischen Faden. Während der Zeit, daß <strong>Heinrich</strong> seinen Betrachtungen nachhing,<br />

hatte sich die Gesellschaft der Höhle genähert. Der Eingang war niedrig, und der Alte nahm<br />

eine Fackel und kletterte über einige Steine zuerst hinein. Ein ziemlich fühlbarer Luftstrom<br />

kam ihm entgegen, und der Alte versicherte, daß sie getrost folgen könnten. Die<br />

Furchtsamsten gingen zuletzt, und hielten ihre Waffen in Bereitschaft. <strong>Heinrich</strong> und die<br />

Kaufleute waren hinter dem Alten und der Knabe wanderte munter an seiner Seite. Der Weg<br />

lief anfänglich in einem ziemlich schmalen Gange, welcher sich aber bald in eine sehr weite<br />

und hohe Höhle endigte, die der Fackelglanz nicht völlig zu erleuchten vermochte; doch sah<br />

man im Hintergrunde einige Öffnungen sich in die Felsenwand verlieren. Der Boden war<br />

weich und ziemlich eben; die Wände sowie die Decke waren ebenfalls nicht rauh und<br />

unregelmäßig; aber was die Aufmerksamkeit aller vorzüglich beschäftigte, war die unzählige<br />

Menge <strong>von</strong> Knochen und Zähnen, die den Boden bedeckten. Viele waren völlig erhalten, an<br />

andern sah man Spuren der Verwesung, und die, welche aus den Wänden hin und wieder<br />

hervorragten, schienen steinartig geworden zu sein. Die meisten waren <strong>von</strong> ungewöhnlicher<br />

Größe und Stärke. Der Alte freute sich über diese Überbleibsel einer uralten Zeit; nur den<br />

Bauern war nicht wohl dabei zumute, denn sie hielten sie für deutliche Spuren naher<br />

Raubtiere, so überzeugend ihnen auch der Alte die Zeichen eines undenklichen Altertums<br />

daran aufwies, und sie fragte, ob sie je etwas <strong>von</strong> Verwüstungen unter ihren Herden und<br />

vom Raube benachbarter Menschen gespürt hätten und ob sie jene Knochen für Knochen<br />

bekannter Tiere oder Menschen halten könnten? Der Alte wollte nun weiter in den Berg,<br />

aber die Bauern fanden für ratsam sich vor die Höhle zurückzuziehn, und dort seine<br />

Rückkunft abzuwarten. <strong>Heinrich</strong>, die Kaufleute und der Knabe blieben bei dem Alten, und<br />

versahen sich mit Stricken und Fackeln. Sie gelangten bald in eine zweite Höhle, wobei der<br />

Alte nicht vergaß, den Gang aus dem sie hereingekommen waren, durch eine Figur <strong>von</strong><br />

Knochen, die er davor hinlegte, zu bezeichnen. Die Höhle glich der vorigen und war ebenso<br />

reich an tierischen Resten. <strong>Heinrich</strong>en war schauerlich und wunderbar zumute; es gemahnte<br />

ihn, als wandle er durch die Vorhöfe des innern Erdenpalastes. Himmel und Leben lag ihm<br />

auf einmal weit entfernt, und diese dunkeln weiten Hallen schienen zu einem unterirdischen<br />

seltsamen Reiche zu gehören. »Wie«, dachte er bei sich selbst, »wäre es möglich, daß unter<br />

unsern Füßen eine eigene Welt in einem ungeheuern Leben sich bewegte? daß unerhörte<br />

Geburten in den Festen der Erde ihr Wesen trieben, die das innere Feuer des dunkeln<br />

Schoßes zu riesenmäßigen und geistesgewaltigen Gestalten auftriebe? Könnten dereinst<br />

diese schauerlichen Fremden, <strong>von</strong> der eindringenden Kälte hervorgetrieben, unter uns<br />

erscheinen, während vielleicht zu gleicher Zeit himmlische Gäste, lebendige, redende Kräfte<br />

der Gestirne über unsern Häuptern sichtbar würden? Sind diese Knochen Überreste ihrer<br />

Wanderungen nach der Oberfläche, oder Zeichen einer Flucht in die Tiefe?«<br />

Auf einmal rief der Alte die andern herbei, und zeigte ihnen eine ziemlich frische<br />

Menschenspur auf dem Boden. Mehrere konnten sie nicht finden, und so glaubte der Alte,<br />

ohne fürchten zu müssen, auf Räuber zu stoßen, der Spur nachgehen zu können. Sie waren<br />

eben im Begriff dies auszuführen, als auf einmal, wie unter ihren Füßen, aus einer fernen<br />

Tiefe ein ziemlich vernehmlicher Gesang anfing. Sie erstaunten nicht wenig, doch horchten<br />

sie genau auf:

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