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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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hinweggenommen war. Der heilige Strahl hatte alle Schmerzen und Bekümmernisse aus<br />

seinem Herzen gesogen, so daß sein Gemüt wieder rein und leicht und sein Geist wieder frei<br />

und fröhlich war, wie vordem. Nichts war übriggeblieben, als ein stilles inniges Sehnen und<br />

ein wehmütiger Klang im Aller Innersten. Aber die wilden Qualen der Einsamkeit, die herbe<br />

Pein eines unsäglichen Verlustes, die trübe, entsetzliche Leere, die irdische Ohnmacht war<br />

gewichen, und der Pilgrim sah sich wieder in einer vollen, bedeutsamen Welt. Stimme und<br />

Sprache waren wieder lebendig bei ihm geworden und es dünkte ihm nunmehr alles viel<br />

bekannter und weissagender, als ehemals, so daß ihm der Tod, wie eine höhere Offenbarung<br />

des Lebens, erschien, und er sein eignes, schnellvorübergehendes Dasein mit kindlicher,<br />

heitrer Rührung betrachtete. Zukunft und Vergangenheit hatten sich in ihm berührt und<br />

einen innigen Verein geschlossen. Er stand weit außer der Gegenwart und die Welt ward ihm<br />

erst teuer, wie er sie verloren hatte, und sich nur als Fremdling in ihr fand, der ihre weiten,<br />

bunten Säle noch eine kurze Weile durchwandern sollte. Es war Abend geworden, und die<br />

Erde lag vor ihm wie ein altes, liebes Wohnhaus, was er nach langer Entfernung verlassen<br />

wiederfände. Tausend Erinnerungen wurden ihm gegenwärtig. Jeder Stein, jeder Baum, jede<br />

Anhöhe wollte wiedergekannt sein. Jedes war das Merkmal einer alten Geschichte.<br />

Der Pilger ergriff seine Laute und sang:<br />

1<br />

Liebeszähren, Liebesflammen<br />

Fließt zusammen;<br />

Heiligt diese Wunderstätten,<br />

Wo der Himmel mir erschienen,<br />

Schwärmt um diesen Baum wie Bienen<br />

In unzähligen Gebeten.<br />

2<br />

Er hat froh sie aufgenommen<br />

Als sie kommen,<br />

Sie geschützt vor Ungewittern;<br />

Sie wird einst in ihrem Garten<br />

Ihn begießen und ihn warten,<br />

Wunder tun mit seinen Splittern.<br />

3<br />

Auch der Felsen ist gesunken<br />

Freudentrunken<br />

Zu der selgen Mutter Füßen.<br />

Ist die Andacht auch in Steinen<br />

Sollte da der Mensch nicht weinen<br />

Und sein Blut für sie vergießen?<br />

4<br />

Die Bedrängten müssen ziehen<br />

Und hier knieen,<br />

Alle werden hier genesen.<br />

Keiner wird fortan noch klagen<br />

Alle werden fröhlich sagen:<br />

Einst sind wir betrübt gewesen.<br />

5

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