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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Reichtum der Erfindung macht nur eine leichte Zusammenstellung faßlich und anmutig,<br />

dagegen auch das bloße Ebenmaß die unangenehme Dürre einer Zahlenfigur hat. Die beste<br />

Poesie liegt uns ganz nahe, und ein gewöhnlicher Gegenstand ist nicht selten ihr liebster<br />

Stoff. Für den Dichter ist die Poesie an beschränkte Werkzeuge gebunden, und eben dadurch<br />

wird sie zur Kunst. Die Sprache überhaupt hat ihren bestimmten Kreis. Noch enger ist der<br />

Umfang einer besonderen Volkssprache. Durch Übung und Nachdenken lernt der Dichter<br />

seine Sprache kennen. Er weiß, was er mit ihr leisten kann, genau, und wird keinen törichten<br />

Versuch machen, sie über ihre Kräfte anzuspannen. Nur selten wird er alle ihre Kräfte<br />

in einen Punkt zusammen drängen, denn sonst wird er ermüdend, und vernichtet selbst die<br />

kostbare Wirkung einer gutangebrachten Kraftäußerung. Auf seltsame Sprünge richtet sie<br />

nur ein Gaukler, kein Dichter ab. Überhaupt können die Dichter nicht genug <strong>von</strong> den<br />

Musikern und Malern lernen. In diesen Künsten wird es recht auffallend, wie nötig es ist,<br />

wirtschaftlich mit den Hülfsmitteln der Kunst umzugehn, und wie viel auf geschickte<br />

Verhältnisse ankommt. Dagegen könnten freilich jene Künstler auch <strong>von</strong> uns die poetische<br />

Unabhängigkeit und den innern Geist jeder Dichtung und Erfindung, jedes echten<br />

Kunstwerks überhaupt, dankbar annehmen. Sie sollen poetischer und wir musikalischer und<br />

malerischer sein – beides nach der Art und Weise unserer Kunst. Der Stoff ist nicht der<br />

Zweck der Kunst, aber die Ausführung ist es. Du wirst selbst sehen, welche Gesänge dir am<br />

besten geraten, gewiß die, deren Gegenstände dir am geläufigsten und gegenwärtigsten<br />

sind. Daher kann man sagen, daß die Poesie ganz auf Erfahrung beruht. Ich weiß selbst, daß<br />

mir in jungen Jahren ein Gegenstand nicht leicht zu entfernt und zu unbekannt sein konnte,<br />

den ich nicht am liebsten besungen hätte. Was wurde es? ein leeres, armseliges<br />

Wortgeräusch, ohne einen Funken wahrer Poesie. Daher ist auch ein Märchen eine sehr<br />

schwierige Aufgabe, und selten wird ein junger Dichter sie gut lösen.«<br />

»Ich möchte gern eins <strong>von</strong> dir hören«, sagte <strong>Heinrich</strong>. »Die wenigen, die ich gehört habe,<br />

haben mich unbeschreiblich ergötzt, so unbedeutend sie auch sein mochten.«<br />

»Ich will heute abend deinen Wunsch befriedigen. Es ist mir eins erinnerlich, was ich noch<br />

in ziemlich jungen Jahren machte, wo<strong>von</strong> es auch noch deutliche Spuren an sich trägt, indes<br />

wird es dich vielleicht desto lehrreicher unterhalten, und dich an manches erinnern, was ich<br />

dir gesagt habe.«<br />

»Die Sprache«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »ist wirklich eine kleine Welt in Zeichen und Tönen. Wie der<br />

Mensch sie beherrscht, so möchte er gern die große Welt beherrschen, und sich frei darin<br />

ausdrücken können. Und eben in dieser Freude, das, was außer der Welt ist, in ihr zu<br />

offenbaren, das tun zu können, was eigentlich der ursprüngliche Trieb unsers Daseins ist,<br />

liegt der Ursprung der Poesie.«<br />

»Es ist recht übel«, sagte Klingsohr, »daß die Poesie einen besondern Namen hat, und die<br />

Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die<br />

eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes. Dichtet und trachtet nicht jeder<br />

Mensch in jeder Minute?« – Eben trat Mathilde ins Zimmer, als Klingsohr noch sagte: »Man<br />

betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Notwendigkeit der Poesie zum Bestand der<br />

Menschheit so klar, als in ihr. Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder<br />

die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie. Doch ich will dir nicht Dinge sagen,<br />

die du besser weißt als ich.«<br />

»Du bist ja der Vater der Liebe«, sagte <strong>Heinrich</strong>, indem er Mathilden umschlang, und beide<br />

seine Hand küßten.

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