Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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meine Leidenschaft. Sei glücklich in deinem Vorhaben.‹ – Eros zog weiter, ohne Ginnistan,<br />
die auf ihn zueilte, einen zärtlichen Blick zu gönnen. Aber zu Fabel wandte er sich freundlich,<br />
und seine kleinen Begleiter tanzten fröhlich um sie her. Fabel freute sich, ihren Milchbruder<br />
wiederzusehn, und sang zu ihrer Leier ein munteres Lied. Eros schien sich besinnen zu wollen<br />
und ließ den Bogen fallen. Die Kleinen entschliefen auf dem Rasen. Ginnistan konnte ihn<br />
fassen, und er litt ihre zärtlichen Liebkosungen. Endlich fing Eros auch an zu nicken,<br />
schmiegte sich an Ginnistans Schoß, und schlummerte ein, indem er seine Flügel über sie<br />
ausbreitete. Unendlich froh war die müde Ginnistan, und verwandte kein Auge <strong>von</strong> dem<br />
holden Schläfer. Während des Gesangs waren <strong>von</strong> allen Seiten Taranteln zum Vorschein<br />
gekommen, die über die Grashalme ein glänzendes Netz zogen, und lebhaft nach dem Takte<br />
sich an ihren Fäden bewegten. Fabel tröstete nun ihre Mutter, und versprach ihr baldige<br />
Hülfe. Vom Felsen tönte der sanfte Widerhall der Musik, und wiegte die Schläfer ein.<br />
Ginnistan sprengte aus dem wohlverwahrten Gefäß einige Tropfen in die Luft, und die<br />
anmutigsten Träume fielen auf sie nieder. Fabel nahm das Gefäß mit und setzte ihre Reise<br />
fort. Ihre Saiten ruhten nicht, und die Taranteln folgten auf schnellgesponnenen Fäden den<br />
bezaubernden Tönen.<br />
Sie sah bald <strong>von</strong> weitem die hohe Flamme des Scheiterhaufens, die über den grünen Wald<br />
emporstieg. Traurig sah sie gen Himmel, und freute sich, wie sie Sophiens blauen Schleier<br />
erblickte, der wallend über der Erde schwebte, und auf ewig die ungeheure Gruft bedeckt.<br />
Die Sonne stand feuerrot vor Zorn am Himmel, die gewaltige Flamme sog an ihrem<br />
geraubten Lichte, und so heftig sie es auch an sich zu halten schien, so ward sie doch immer<br />
bleicher und fleckiger. Die Flamme ward weißer und mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie<br />
sog das Licht immer stärker in sich, und bald war die Glorie um das Gestirn des Tages<br />
verzehrt und nur als eine matte, glänzende Scheibe stand es noch da, indem jede neue<br />
Regung des Neides und der Wut den Ausbruch der entfliehenden Lichtwellen vermehrte.<br />
Endlich war nichts <strong>von</strong> der Sonne mehr übrig, als eine schwarze ausgebrannte Schlacke, die<br />
herunter ins Meer fiel. Die Flamme war über allen Ausdruck glänzend geworden. Der<br />
Scheiterhaufen war verzehrt. Sie hob sich langsam in die Höhe und zog nach Norden. Fabel<br />
trat in den Hof , der verödet aussah; das Haus war unterdes verfallen. Dornsträuche<br />
wuchsen in den Ritzen der Fenstergesimse und Ungeziefer aller Art krabbelte auf den<br />
zerbrochenen Stiegen. Sie hörte im Zimmer einen entsetzlichen Lärm; der Schreiber und<br />
seine Gesellen hatten sich an dem Flammentode der Mutter geweidet, waren aber gewaltig<br />
erschrocken, wie sie den Untergang der Sonne wahrgenommen hatten.<br />
Sie hatten sich vergeblich angestrengt, die Flamme zu löschen, und waren bei dieser<br />
Gelegenheit nicht ohne Beschädigungen geblieben. Der Schmerz und die Angst preßte ihnen<br />
entsetzliche Verwünschungen und Klagen aus. Sie erschraken noch mehr, als Fabel ins<br />
Zimmer trat, und stürmten mit wütendem Geschrei auf sie ein, um an ihr den Grimm<br />
auszulassen. Fabel schlüpfte hinter die Wiege, und ihre Verfolger traten ungestüm in das<br />
Gewebe der Taranteln, die sich durch unzählige Bisse an ihnen rächten. Der ganze Hafen fing<br />
nun toll an zu tanzen, wozu Fabel ein lustiges Lied spielte. Mit vielem Lachen über ihre<br />
possierlichen Fratzen ging sie auf die Trümmer des Altars zu, und räumte sie weg, um die<br />
verborgene Treppe zu finden, auf der sie mit ihrem Tarantelgefolge hinunterstieg. Die Sphinx<br />
fragte: ›Was kommt plötzlicher, als der Blitz?‹ ›Die Rache‹, sagte Fabel. – ›Was ist am<br />
vergänglichsten?‹ – ›Unrechter Besitz.‹ – ›Wer kennt die Welt?‹ – ›Wer sich selbst kennt.‹ –<br />
›Was ist das ewige Geheimnis?‹ – ›Die Liebe.‹ – ›Bei wem ruht es?‹ – ›Bei Sophien.‹ Die<br />
Sphinx krümmte sich kläglich, und Fabel trat in die Höhle.