Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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Der arme Pilgrim gedachte der alten Zeiten und ihrer unsäglichen Entzückungen – Aber<br />
wie matt gingen diese köstlichen Erinnerungen vorüber. Der breite Hut verdeckte ein<br />
jugendliches Gesicht. Es war bleich, wie eine Nachtblume. In Tränen hatte sich der<br />
Balsamsaft des jungen Lebens, in tiefe Seufzer sein schwellender Hauch verwandelt. In ein<br />
fahles Aschgrau waren alle seine Farben verschossen.<br />
Seitwärts am Gehänge schien ihm ein Mönch unter einem alten Eichbaum zu knien. »Sollte<br />
das der alte Hofkaplan sein?« so dacht er bei sich, ohne große Verwunderung. Der Mönch<br />
kam ihm größer und ungestaltet vor, je näher er zu ihm trat. Er bemerkte nun seinen Irrtum,<br />
denn es war ein einzelner Felsen, über den sich der Baum herbog. Stillgerührt faßte er den<br />
Stein in seine Arme, und drückte ihn lautweinend an seine Brust. »Ach, daß doch jetzt deine<br />
Reden sich bewährten und die heilge Mutter ein Zeichen an mir täte! Bin ich doch so ganz<br />
elend und verlassen. Wohnt in meiner Wüste kein Heiliger, der mir sein Gebet liehe? Bete<br />
du, teurer Vater, jetzt in diesem Augenblick für mich.«<br />
Wie er so bei sich dachte fing der Baum an zu zittern. Dumpf dröhnte der Felsen und wie<br />
aus tiefer, unterirdischer Ferne erhoben sich einige klare Stimmchen und sangen:<br />
Ihr Herz war voller Freuden<br />
Von Freuden sie nur wußt<br />
Sie wußt <strong>von</strong> keinem Leiden<br />
Druckts Kindelein an ihr' Brust.<br />
Sie küßt ihm seine Wangen<br />
Sie küßt es mannigfalt,<br />
Mit Liebe ward sie umfangen<br />
Durch Kindleins schöne Gestalt.<br />
Die Stimmchen schienen mit unendlicher Lust zu singen. Sie wiederholten den Vers<br />
einigemal. Es ward alles wieder ruhig und nun hörte der erstaunte Pilger, daß jemand aus<br />
dem Baume sagte:<br />
»Wenn du ein Lied zu meinen Ehren auf deiner Laute spielen wirst, so wird ein armes<br />
Mädchen herfürkommen. Nimm sie mit und laß sie nicht <strong>von</strong> dir. Gedenke meiner, wenn du<br />
zum Kaiser kommst. Ich habe mir diese Stätte ausersehn um mit meinem Kindlein hier zu<br />
wohnen. Laß mir ein starkes, warmes Haus hier bauen. Mein Kindlein hat den Tod<br />
überwunden. Härme dich nicht – Ich bin bei dir. Du wirst noch eine Weile auf Erden bleiben,<br />
aber das Mädchen wird dich trösten, bis du auch stirbst und zu unsern Freunden eingehst.«<br />
»Es ist Mathildens Stimme«, rief der Pilger, und fiel auf seine Knie, um zu beten. Da drang<br />
durch die Äste ein langer Strahl zu seinen Augen und er sah durch den Strahl in eine ferne,<br />
kleine, wundersame Herrlichkeit hinein, welche nicht zu beschreiben, noch kunstreich mit<br />
Farben nachzubilden möglich gewesen wäre. Es waren überaus feine Figuren und die<br />
innigste Lust und Freude, ja eine himmlische Glückseligkeit war darin überall zu schauen,<br />
sogar daß die leblosen Gefäße, das Säulwerk, die Teppiche, Zieraten, kurzum alles was zu<br />
sehn war nicht gemacht, sondern, wie ein vollsaftiges Kraut, aus eigner Lustbegierde also<br />
gewachsen und zusammengekommen zu sein schien. Es waren die schönsten menschlichen<br />
Gestalten, die dazwischen umhergingen und sich über die Maßen freundlich und holdselig<br />
gegeneinander erzeugten. Ganz vorn stand die Geliebte des Pilgers und hatt' es das Ansehn,<br />
als wolle sie mit ihm sprechen. Doch war nichts zu hören und betrachtete der Pilger nur mit<br />
tiefer Sehnsucht ihre anmutigen Züge und wie sie so freundlich und lächelnd ihm zuwinkte,<br />
und die Hand auf ihre linke Brust legte. Der Anblick war unendlich tröstend und erquickend<br />
und der Pilger lag noch lang in seliger Entzückung, als die Erscheinung wieder