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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Wellen. ›Bücke dich, liebe Mutter‹, sagte Fabel, ›und lege die Hand auf das Herz des<br />

Geliebten.‹<br />

Ginnistan bückte sich. Sie sah ihr vielfaches Bild. Die Kette berührte die Flut, ihre Hand sein<br />

Herz; er erwachte und zog die entzückte Braut an seine Brust. Das Metall gerann, und ward<br />

ein heller Spiegel. Der Vater erhob sich, seine Augen blitzten, und so schön und bedeutend<br />

auch seine Gestalt war, so schien doch sein ganzer Körper eine feine unendlich bewegliche<br />

Flüssigkeit zu sein, die jeden Eindruck in den mannigfaltigsten und reizendsten Bewegungen<br />

verriet.<br />

Das glückliche Paar näherte sich Sophien, die Worte der Weihe über sie aussprach, und sie<br />

ermahnte, den Spiegel fleißig zu Rate zu ziehn, der alles in seiner wahren Gestalt<br />

zurückwerfe, jedes Blendwerk vernichte, und ewig das ursprüngliche Bild festhalte. Sie<br />

ergriff nun die Urne und schüttete die Asche in die Schale auf dem Altar. Ein sanftes Brausen<br />

verkündigte die Auflösung, und ein leiser Wind wehte in den Gewändern und Locken der<br />

Umstehenden.<br />

Sophie reichte die Schale dem Eros und dieser den andern. Alle kosteten den göttlichen<br />

Trank, und vernahmen die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern, mit<br />

unsäglicher Freude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnisvolle Anwesenheit schien<br />

alle zu verklären.<br />

Die Erwartung war erfüllt und übertroffen. Alle merkten, was ihnen gefehlt habe, und das<br />

Zimmer war ein Aufenthalt der Seligen geworden. Sophie sagte: ›Das große Geheimnis ist<br />

allen offenbart, und bleibt ewig unergründlich. Aus Schmerzen wird die neue Welt geboren,<br />

und in Tränen wird die Asche zum Trank des ewigen Lebens aufgelöst. In jedem wohnt die<br />

himmlische Mutter, um jedes Kind ewig zu gebären. Fühlt ihr die süße Geburt im Klopfen<br />

eurer Brust?‹<br />

Sie goß in den Altar den Rest aus der Schale hinunter. Die Erde bebte in ihren Tiefen.<br />

Sophie sagte: ›Eros, eile mit deiner Schwester zu deiner Geliebten. Bald seht ihr mich<br />

wieder.‹<br />

Fabel und Eros gingen mit ihrer Begleitung schnell hinweg. Es war ein mächtiger Frühling<br />

über die Erde verbreitet. Alles hob und regte sich. Die Erde schwebte näher unter dem<br />

Schleier. Der Mond und die Wolken zogen mit fröhlichem Getümmel nach Norden. Die<br />

Königsburg strahlte mit herrlichem Glanze über das Meer, und auf ihren Zinnen stand der<br />

König in voller Pracht mit seinem Gefolge. Überall erblickten sie Staubwirbel, in denen sich<br />

bekannte Gestalten zu bilden schienen. Sie begegneten zahlreichen Scharen <strong>von</strong> Jünglingen<br />

und Mädchen, die nach der Burg strömten, und sie mit Jauchzen bewillkommten. Auf<br />

manchen Hügeln saß ein glückliches eben erwachtes Paar in lang entbehrter Umarmung,<br />

hielt die neue Welt für einen Traum, und konnte nicht aufhören, sich <strong>von</strong> der schönen<br />

Wahrheit zu überzeugen.<br />

Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. Alles sprach<br />

und sang. Fabel grüßte überall alte Bekannte. Die Tiere nahten sich mit freundlichen Grüßen<br />

den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirteten sie mit Früchten und Düften, und<br />

schmückten sie auf das zierlichste. Kein Stein lag mehr auf einer Menschenbrust, und alle<br />

Lasten waren in sich selbst zu einem festen Fußboden zusammengesunken. Sie kamen an<br />

das Meer. Ein Fahrzeug <strong>von</strong> geschliffenem Stahl lag am Ufer festgebunden. Sie traten hinein<br />

und lösten das Tau. Die Spitze richtete sich nach Norden, und das Fahrzeug durchschnitt, wie<br />

im Fluge, die buhlenden Wellen. Lispelndes Schilf hielt seinen Ungestüm auf, und es stieß<br />

leise an das Ufer. Sie eilten die breiten Treppen hinan. Die Liebe wunderte sich über die

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