29.10.2013 Aufrufe

Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Vorschein. Vor allen Fenstern standen zierliche Gefäße <strong>von</strong> Ton, voll der mannigfaltigsten<br />

Eis- und Schneeblumen, die auf das anmutigste funkelten.<br />

Am herrlichsten nahm sich auf dem großen Platze vor dem Palaste der Garten aus, der aus<br />

Metallbäumen und Kristallpflanzen bestand, und mit bunten Edelsteinblüten und Früchten<br />

übersäet war. Die Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit der Gestalten, und die Lebhaftigkeit der<br />

Lichter und Farben gewährten das herrlichste Schauspiel, dessen Pracht durch einen hohen<br />

Springquell in der Mitte des Gartens, der zu Eis erstarrt war, vollendet wurde. Der alte Held<br />

ging vor den Toren des Palastes langsam vorüber. Eine Stimme rief seinen Namen im Innern.<br />

Er lehnte sich an das Tor, das mit einem sanften Klange sich öffnete, und trat in den Saal.<br />

Seinen Schild hielt er vor die Augen. ›Hast du noch nichts entdeckt?‹ sagte die schöne<br />

Tochter Arcturs, mit klagender Stimme. Sie lag an seidnen Polstern auf einem Throne, der<br />

<strong>von</strong> einem großen Schwefelkristall künstlich erbaut war, und einige Mädchen rieben emsig<br />

ihre zarten Glieder, die wie aus Milch und Purpur zusammengeflossen schienen. Nach allen<br />

Seiten strömte unter den Händen der Mädchen das reizende Licht <strong>von</strong> ihr aus, was den<br />

Palast so wundersam erleuchtete. Ein duftender Wind wehte im Saale. Der Held schwieg.<br />

›Laß mich deinen Schild berühren‹, sagte sie sanft. Er näherte sich dem Throne und betrat<br />

den köstlichen Teppich. Sie ergriff seine Hand, drückte sie mit Zärtlichkeit an ihren<br />

himmlischen Busen und rührte seinen Schild an. Seine Rüstung klang, und eine<br />

durchdringende Kraft beseelte seinen Körper. Seine Augen blitzten und das Herz pochte<br />

hörbar an den Panzer. Die schöne Freya schien heiterer, und das Licht ward brennender, das<br />

<strong>von</strong> ihr ausströmte. ›Der König kommt‹, rief ein prächtiger Vogel, der im Hintergrunde des<br />

Thrones sag. Die Dienerinnen legten eine himmelblaue Decke über die Prinzessin, die sie bis<br />

über den Busen bedeckte. Der Held senkte seinen Schild und sah nach der Kuppel hinauf, zu<br />

welcher zwei breite Treppen <strong>von</strong> beiden Seiten des Saals sich hinaufschlangen. Eine leise<br />

Musik ging dem Könige voran, der bald mit einem zahlreichen Gefolge in der Kuppel erschien<br />

und herunterkam.<br />

Der schöne Vogel entfaltete seine glänzenden Schwingen, bewegte sie sanft und sang, wie<br />

mit tausend Stimmen, dem Könige entgegen:<br />

Nicht lange wird der schöne Fremde säumen.<br />

Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt.<br />

Die Königin erwacht aus langen Träumen,<br />

Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt.<br />

Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen,<br />

Wenn Fabel erst das alte Recht gewinnt.<br />

In Freyas Schoß wird sich die Welt entzünden<br />

Und jede Sehnsucht ihre Sehnsucht finden.<br />

Der König umarmte seine Tochter mit Zärtlichkeit. Die Geister der Gestirne stellten sich um<br />

den Thron, und der Held nahm in der Reihe seinen Platz ein. Eine unzählige Menge Sterne<br />

füllten den Saal in zierlichen Gruppen. Die Dienerinnen brachten einen Tisch und ein<br />

Kästchen, worin eine Menge Blätter lagen, auf denen heilige tiefsinnige Zeichen standen, die<br />

aus lauter Sternbildern zusammengesetzt waren. Der König küßte ehrfurchtsvoll diese<br />

Blätter, mischte sie sorgfältig untereinander, und reichte seiner Tochter einige zu. Die<br />

andern behielt er für sich. Die Prinzessin zog sie nach der Reihe heraus und legte sie auf den<br />

Tisch, dann betrachtete der König die seinigen genau, und wählte mit vielem Nachdenken,<br />

ehe er eins dazu hinlegte. Zuweilen schien er gezwungen zu sein, dies oder jenes Blatt zu<br />

wählen. Oft aber sah man ihm die Freude an, wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine<br />

schöne Harmonie der Zeichen und Figuren legen konnte. Wie das Spiel anfing, sah man an

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!