Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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Vorschein. Vor allen Fenstern standen zierliche Gefäße <strong>von</strong> Ton, voll der mannigfaltigsten<br />
Eis- und Schneeblumen, die auf das anmutigste funkelten.<br />
Am herrlichsten nahm sich auf dem großen Platze vor dem Palaste der Garten aus, der aus<br />
Metallbäumen und Kristallpflanzen bestand, und mit bunten Edelsteinblüten und Früchten<br />
übersäet war. Die Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit der Gestalten, und die Lebhaftigkeit der<br />
Lichter und Farben gewährten das herrlichste Schauspiel, dessen Pracht durch einen hohen<br />
Springquell in der Mitte des Gartens, der zu Eis erstarrt war, vollendet wurde. Der alte Held<br />
ging vor den Toren des Palastes langsam vorüber. Eine Stimme rief seinen Namen im Innern.<br />
Er lehnte sich an das Tor, das mit einem sanften Klange sich öffnete, und trat in den Saal.<br />
Seinen Schild hielt er vor die Augen. ›Hast du noch nichts entdeckt?‹ sagte die schöne<br />
Tochter Arcturs, mit klagender Stimme. Sie lag an seidnen Polstern auf einem Throne, der<br />
<strong>von</strong> einem großen Schwefelkristall künstlich erbaut war, und einige Mädchen rieben emsig<br />
ihre zarten Glieder, die wie aus Milch und Purpur zusammengeflossen schienen. Nach allen<br />
Seiten strömte unter den Händen der Mädchen das reizende Licht <strong>von</strong> ihr aus, was den<br />
Palast so wundersam erleuchtete. Ein duftender Wind wehte im Saale. Der Held schwieg.<br />
›Laß mich deinen Schild berühren‹, sagte sie sanft. Er näherte sich dem Throne und betrat<br />
den köstlichen Teppich. Sie ergriff seine Hand, drückte sie mit Zärtlichkeit an ihren<br />
himmlischen Busen und rührte seinen Schild an. Seine Rüstung klang, und eine<br />
durchdringende Kraft beseelte seinen Körper. Seine Augen blitzten und das Herz pochte<br />
hörbar an den Panzer. Die schöne Freya schien heiterer, und das Licht ward brennender, das<br />
<strong>von</strong> ihr ausströmte. ›Der König kommt‹, rief ein prächtiger Vogel, der im Hintergrunde des<br />
Thrones sag. Die Dienerinnen legten eine himmelblaue Decke über die Prinzessin, die sie bis<br />
über den Busen bedeckte. Der Held senkte seinen Schild und sah nach der Kuppel hinauf, zu<br />
welcher zwei breite Treppen <strong>von</strong> beiden Seiten des Saals sich hinaufschlangen. Eine leise<br />
Musik ging dem Könige voran, der bald mit einem zahlreichen Gefolge in der Kuppel erschien<br />
und herunterkam.<br />
Der schöne Vogel entfaltete seine glänzenden Schwingen, bewegte sie sanft und sang, wie<br />
mit tausend Stimmen, dem Könige entgegen:<br />
Nicht lange wird der schöne Fremde säumen.<br />
Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt.<br />
Die Königin erwacht aus langen Träumen,<br />
Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt.<br />
Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen,<br />
Wenn Fabel erst das alte Recht gewinnt.<br />
In Freyas Schoß wird sich die Welt entzünden<br />
Und jede Sehnsucht ihre Sehnsucht finden.<br />
Der König umarmte seine Tochter mit Zärtlichkeit. Die Geister der Gestirne stellten sich um<br />
den Thron, und der Held nahm in der Reihe seinen Platz ein. Eine unzählige Menge Sterne<br />
füllten den Saal in zierlichen Gruppen. Die Dienerinnen brachten einen Tisch und ein<br />
Kästchen, worin eine Menge Blätter lagen, auf denen heilige tiefsinnige Zeichen standen, die<br />
aus lauter Sternbildern zusammengesetzt waren. Der König küßte ehrfurchtsvoll diese<br />
Blätter, mischte sie sorgfältig untereinander, und reichte seiner Tochter einige zu. Die<br />
andern behielt er für sich. Die Prinzessin zog sie nach der Reihe heraus und legte sie auf den<br />
Tisch, dann betrachtete der König die seinigen genau, und wählte mit vielem Nachdenken,<br />
ehe er eins dazu hinlegte. Zuweilen schien er gezwungen zu sein, dies oder jenes Blatt zu<br />
wählen. Oft aber sah man ihm die Freude an, wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine<br />
schöne Harmonie der Zeichen und Figuren legen konnte. Wie das Spiel anfing, sah man an