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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Wir waschen bald in frohem Mute<br />

Das Heilige Grab mit Heidenblute.<br />

Die heilge Jungfrau schwebt, getragen<br />

Von Engeln, ob der wilden Schlacht,<br />

Wo jeder, den das Schwert geschlagen,<br />

In ihrem Mutterarm erwacht.<br />

Sie neigt sich mit verklärter Wange<br />

Herunter zu dem Waffenklange.<br />

Hinüber zu der heilgen Stätte!<br />

Des Grabes dumpfe Stimme tönt!<br />

Bald wird mit Sieg und mit Gebete<br />

Die Schuld der Christenheit versöhnt!<br />

Das Reich der Heiden wird sich enden,<br />

Ist erst das Grab in unsern Händen.<br />

<strong>Heinrich</strong>s ganze Seele war in Aufruhr, das Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugendliche<br />

Gestalt vor, die auf einem großen Stein mitten unter wildem Pöbel säße, und auf eine<br />

entsetzliche Weise gemißhandelt würde, als wenn sie mit kummervollem Gesichte nach<br />

einem Kreuze blicke, was im Hintergrunde mit lichten Zügen schimmerte, und sich in den<br />

bewegten Wellen eines Meeres unendlich vervielfältigte.<br />

Seine Mutter schickte eben herüber, um ihn zu holen, und der Hausfrau des Ritters<br />

vorzustellen. Die Ritter waren in ihr Gelag und ihre Vorstellungen des bevorstehenden Zuges<br />

vertieft, und bemerkten nicht, daß <strong>Heinrich</strong> sich entfernte. Er fand seine Mutter in<br />

traulichem Gespräch mit der alten, gutmütigen Frau des Schlosses, die ihn freundlich<br />

bewillkommte. Der Abend war heiter; die Sonne begann sich zu neigen, und <strong>Heinrich</strong>, der<br />

sich nach Einsamkeit sehnte, und <strong>von</strong> der goldenen Ferne gelockt wurde, die durch die<br />

engen, tiefen Bogenfenster in das düstre Gemach hineintrat, erhielt leicht die Erlaubnis, sich<br />

außerhalb des Schlosses besehen zu dürfen.<br />

Er eilte ins Freie, sein ganzes Gemüt war rege, er sah <strong>von</strong> der Höhe des alten Felsen<br />

zunächst in das waldige Tal, durch das ein Bach herunterstürzte und einige Mühlen trieb,<br />

deren Geräusch man kaum aus der gewaltigen Tiefe vernehmen konnte, und dann in eine<br />

unabsehliche Ferne <strong>von</strong> Bergen, Wäldern und Niederungen, und seine innere Unruhe wurde<br />

besänftigt. Das kriegerische Getümmel verlor sich, und es blieb nur eine klare bilderreiche<br />

Sehnsucht zurück. Er fühlte, daß ihm eine Laute mangelte, so wenig er auch wußte, wie sie<br />

eigentlich gebaut sei, und welche Wirkung sie hervorbringe. Das heitere Schauspiel des<br />

herrlichen Abends wiegte ihn in sanfte Phantasien: die Blume seines Herzens ließ sich<br />

zuweilen, wie ein Wetterleuchten in ihm sehn. – Er schweifte durch das wilde Gebüsch und<br />

kletterte über bemooste Felsenstücke, als auf einmal aus einer nahen Tiefe ein zarter<br />

eindringender Gesang einer weiblichen Stimme <strong>von</strong> wunderbaren Tönen begleitet,<br />

erwachte. Es war ihm gewiß, daß es eine Laute sei; er blieb verwunderungsvoll stehen, und<br />

hörte in gebrochner deutscher Aussprache folgendes Lied:<br />

Bricht das matte Herz noch immer<br />

Unter fremdem Himmel nicht?<br />

Kommt der Hoffnung bleicher Schimmer<br />

Immer mir noch zu Gesicht?<br />

Kann ich wohl noch Rückkehr wähnen?

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