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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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warf; Licht und Schatten schienen hier ihre Rollen vertauscht zu haben. Fabel freute sich in<br />

einer neuen Welt zu sein. Sie besah alles mit kindlicher Neugierde. Endlich kam sie an das<br />

Tor, vor welchem auf einem massiven Postument eine schöne Sphinx lag.<br />

›Was suchst du?‹ sagte die Sphinx. ›Mein Eigentum‹, erwiderte Fabel. – ›Wo kommst du<br />

her?‹ – ›Aus alten Zeiten.‹ – ›Du bist noch ein Kind‹ – ›Und werde ewig ein Kind sein.‹ – ›Wer<br />

wird dir beistehn?‹ – ›Ich stehe für mich. Wo sind die Schwestern?‹ fragte Fabel. – ›Überall<br />

und nirgends‹, gab die Sphinx zur Antwort. – ›Kennst du mich?‹ – ›Noch nicht.‹ – ›Wo ist die<br />

Liebe?‹ – ›In der Einbildung.‹ – ›Und Sophie?‹ – Die Sphinx murmelte unvernehmlich vor sich<br />

hin, und rauschte mit den Flügeln. ›Sophie und Liebe‹, rief triumphierend Fabel, und ging<br />

durch das Tor. Sie trat in die ungeheure Höhle, und ging fröhlich auf die alten Schwestern zu,<br />

die bei der kärglichen Nacht einer schwarzbrennenden Lampe ihr wunderliches Geschäft<br />

trieben. Sie taten nicht, als ob sie den kleinen Gast bemerkten, der mit artigen Liebkosungen<br />

sich geschäftig um sie erzeigte. Endlich krächzte die eine mit rauhen Worten und scheelem<br />

Gesicht: ›Was willst du hier, Müßiggängerin? wer hat dich eingelassen? Dein kindisches<br />

Hüpfen bewegt die stille Flamme. Das Öl verbrennt unnützerweise. Kannst du dich nicht<br />

hinsetzen und etwas vornehmen?‹ – ›Schöne Base‹, sagte Fabel, ›am Müßiggehn ist mir<br />

nichts gelegen. Ich mußte recht über eure Türhüterin lachen. Sie hätte mich gern an die<br />

Brust genommen, aber sie mußte zu viel gegessen haben, sie konnte nicht aufstehn. Laßt<br />

mich vor der Tür sitzen, und gebt mir etwas zu spinnen; denn hier kann ich nicht gut sehen,<br />

und wenn ich spinne, muß ich singen und plaudern dürfen, und das könnte euch in euren<br />

ernsthaften Gedanken stören.‹ – ›Hinaus sollst du nicht, aber in der Nebenkammer bricht ein<br />

Strahl der Oberwelt durch die Felsritzen, da magst du spinnen, wenn du so geschickt bist;<br />

hier liegen ungeheure Haufen <strong>von</strong> alten Enden, die drehe zusammen; aber hüte dich: wenn<br />

du saumselig spinnst, oder der Faden reißt, so schlingen sich die Fäden um dich her und<br />

ersticken dich.‹ – Die Alte lachte hämisch, und spann. Fabel raffte einen Arm voll Fäden<br />

zusammen, nahm Wocken und Spindel, und hüpfte singend in die Kammer. Sie sah durch die<br />

Öffnung hinaus, und erblickte das Sternbild des Phönixes. Froh über das glückliche Zeichen<br />

fing sie an lustig zu spinnen, ließ die Kammertür ein wenig offen, und sang halbleise:<br />

Erwacht in euren Zellen,<br />

Ihr Kinder alter Zeit;<br />

Laßt eure Ruhestellen,<br />

Der Morgen ist nicht weit.<br />

Ich spinne eure Fäden<br />

In einen Faden ein;<br />

Aus ist die Zeit der Fehden.<br />

Ein Leben sollt' ihr sein.<br />

Ein jeder lebt in Allen,<br />

Und All' in jedem auch.<br />

Ein Herz wird in euch wallen,<br />

Von einem Lebenshauch.<br />

Noch seid ihr nichts als Seele,<br />

Nur Traum und Zauberei.<br />

Geht furchtbar in die Höhle<br />

Und neckt die heil'ge Drei.<br />

Die Spindel schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit zwischen den kleinen Füßen;<br />

während sie mit beiden Händen den zarten Faden drehte. Unter dem Liede wurden

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