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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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diesen wunderbaren Orten, und ward nicht müde diese reizenden Wildnisse zu<br />

durchstreifen und sich an ihren Kleinodien zu ergötzen. Auch auf meiner jetzigen Reise habe<br />

ich viele Merkwürdigkeiten gesehn, und gewiß ist in andern Ländern die Erde ebenso<br />

ergiebig und verschwenderisch.«<br />

»Wenn man«, sagte der Unbekannte, »die Schätze bedenkt, die im Orient zu Hause sind,<br />

so ist daran kein Zweifel, und ist das ferne Indien, Afrika und Spanien nicht schon im<br />

Altertum durch Reichtümer seines Bodens bekannt gewesen? Als Kriegsmann gibt man<br />

freilich nicht so genau auf die Adern und Klüfte der Berge acht, indes habe ich doch zuweilen<br />

meine Betrachtungen über diese glänzenden Streifen gehabt, die wie seltsame Knospen auf<br />

eine unerwartete Blüte und Frucht deuten. Wie hätte ich damals denken können, wenn ich<br />

froh über das Licht des Tages an diesen dunkeln Behausungen vorbeizog, daß ich noch im<br />

Schoße eines Berges mein Leben beschließen würde. Meine Liebe trug mich stolz über den<br />

Erdboden, und in ihrer Umarmung hoffte ich in späten Jahren zu entschlafen. Der Krieg<br />

endigte, und ich zog nach Hause, voll froher Erwartungen eines erquicklichen Herbstes. Aber<br />

der Geist des Krieges schien der Geist meines Glücks zu sein. Meine Marie hatte mir zwei<br />

Kinder im Orient geboren. Sie waren die Freude unsers Lebens. Die Seefahrt und die rauhere<br />

abendländische Luft störte ihre Blüte. Ich begrub sie wenig Tage nach meiner Ankunft in<br />

Europa. Kummervoll führte ich meine trostlose Gattin nach meiner Heimat. Ein stiller Gram<br />

mochte den Faden ihres Lebens mürbe gemacht haben. Auf einer Reise, die ich bald darauf<br />

unternehmen mußte, auf der sie mich wie immer begleitete, verschied sie sanft und plötzlich<br />

in meinen Armen. Es war hier nahe bei, wo unsere irdische Wallfahrt zu Ende ging. Mein<br />

Entschluß war im Augenblicke reif. Ich fand, was ich nie erwartet hatte; eine göttliche<br />

Erleuchtung kam über mich, und seit dem Tage, da ich sie hier selbst begrub, nahm eine<br />

himmlische Hand allen Kummer <strong>von</strong> meinem Herzen. Das Grabmal habe ich nachher<br />

errichten lassen. Oft scheint eine Begebenheit sich zu endigen, wenn sie erst eigentlich<br />

beginnt, und dies hat bei meinem Leben stattgefunden. Gott verleihe euch allen ein seliges<br />

Alter, und ein so ruhiges Gemüt wie mir.«<br />

<strong>Heinrich</strong> und die Kaufleute hatten aufmerksam dem Gespräche zugehört, und der erstere<br />

fühlte besonders neue Entwickelungen seines ahndungsvollen Innern. Manche Worte,<br />

manche Gedanken fielen wie belebender Fruchtstaub in seinen Schoß, und rückten ihn<br />

schnell aus dem engen Kreise seiner Jugend auf die Höhe der Welt. Wie lange Jahre lagen die<br />

eben vergangenen Stunden hinter ihm, und er glaubte nie anders gedacht und empfunden<br />

zu haben.<br />

Der Einsiedler zeigte ihnen seine Bücher. Es waren alte Historien und Gedichte. <strong>Heinrich</strong><br />

blätterte in den großen schöngemalten Schriften; die kurzen Zeilen der Verse, die<br />

Überschriften, einzelne Stellen, und die saubern Bilder, die hier und da, wie verkörperte<br />

Worte, zum Vorschein kamen, um die Einbildungskraft des Lesers zu unterstützen, reizten<br />

mächtig seine Neugierde. Der Einsiedler bemerkte seine innere Lust, und erklärte ihm die<br />

sonderbaren Vorstellungen. Die mannigfaltigsten Lebensszenen waren abgebildet. Kämpfe,<br />

Leichenbegängnisse, Hochzeitfeierlichkeiten, Schiffbrüche, Höhlen und Paläste; Könige,<br />

Helden, Priester, alte und junge Leute, Menschen in fremden Trachten, und seltsame Tiere,<br />

kamen in verschiedenen Abwechselungen und Verbindungen vor. <strong>Heinrich</strong> konnte sich nicht<br />

satt sehen, und hätte nichts mehr gewünscht, als bei dem Einsiedler, der ihn unwiderstehlich<br />

anzog, zu bleiben, und <strong>von</strong> ihm über diese Bücher unterrichtet zu werden. Der Alte fragte<br />

unterdes, ob es noch mehr Höhlen gäbe, und der Einsiedler sagte ihm, daß noch einige sehr<br />

große in der Nähe lägen, wohin er ihn begleiten wollte. Der Alte war dazu bereit, und der<br />

Einsiedler, der die Freude merkte, die <strong>Heinrich</strong> an seinen Büchern hatte, veranlaßte ihn,

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