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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Indem es sich mit ihnen vermischet<br />

Und gierig in ihre Tiefen fällt,<br />

Sein eigentümliches Wesen erfrischet<br />

Und tausend neue Gedanken erhält.<br />

Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt,<br />

Und was man geglaubt, es sei geschehn,<br />

Kann man <strong>von</strong> weitem erst kommen sehn.<br />

Frei soll die Phantasie erst schalten,<br />

Nach ihrem Gefallen die Fäden verweben,<br />

Hier manches verschleiern, dort manches entfalten,<br />

Und endlich in magischen Dunst verschweben,<br />

Wehmut und Wollust, Tod und Leben<br />

Sind hier in innigster Sympathie –<br />

Wer sich der höchsten Lieb' ergeben,<br />

Genest <strong>von</strong> ihren Wunden nie.<br />

Schmerzhaft muß jenes Band zerreißen,<br />

Was sich ums innre Auge zieht,<br />

Einmal das treuste Herz verwaisen,<br />

Eh es der trüben Welt entflieht.<br />

Der Leib wird aufgelöst in Tränen,<br />

Zum weiten Grabe wird die Welt,<br />

In das, verzehrt <strong>von</strong> bangem Sehnen,<br />

Das Herz, als Asche, niederfällt.<br />

Auf dem schmalen Fußsteige, der ins Gebürg hinauflief, ging ein Pilgrim in tiefen<br />

Gedanken. Mittag war vorbei. Ein starker Wind sauste durch die blaue Luft. Seine dumpfen,<br />

mannigfaltigen Stimmen verloren sich, wie sie kamen. War er vielleicht durch die Gegenden<br />

der Kindheit geflogen? Oder durch andre redende Länder? Es waren Stimmen, deren Echo<br />

nach dem Innersten klang und dennoch schien sie der Pilgrim nicht zu kennen. Er hatte nun<br />

das Gebürg erreicht, wo er das Ziel seiner Reise zu finden hoffte – hoffte? – Er hoffte gar<br />

nichts mehr. Die entsetzliche Angst und dann die trockne Kälte der gleichgültigsten<br />

Verzweiflung trieben ihn, die wilden Schrecknisse des Gebürgs aufzusuchen. Der mühselige<br />

Gang beruhigte das zerstörende Spiel der innern Gewalten. Er war matt aber still. Noch sah<br />

er nichts was um ihn her sich allmählich gehäuft hatte, als er sich auf einen Stein setzte, und<br />

den Blick rückwärts wandte. Es dünkte ihm, als träume er jetzt oder habe er geträumt. Eine<br />

unübersehliche Herrlichkeit schien sich vor ihm aufzutun. Bald flossen seine Tränen, indem<br />

sein Innres plötzlich brach. Er wollte sich in die Ferne verweinen, daß auch keine Spur seines<br />

Daseins übrig bliebe. Unter dem heftigen Schluchzen schien er zu sich selbst zu kommen; die<br />

weiche heitre Luft durchdrang ihn, seinen Sinnen ward die Welt wieder gegenwärtig und alte<br />

Gedanken fingen tröstlich zu reden an.<br />

Dort lag Augsburg mit seinen Türmen. Fern am Gesichtskreis blinkte der Spiegel des<br />

furchtbaren, geheimnisvollen Stroms. Der ungeheure Wald bog sich mit tröstlichem Ernst zu<br />

dem Wanderer, das gezackte Gebürg ruhte so bedeutend über der Ebene und beide<br />

schienen zu sagen: »Eile nur, Strom, du entfliehst uns nicht – Ich will dir folgen mit<br />

geflügelten Schiffen. Ich will dich brechen und halten und dich verschlucken in meinen<br />

Schoß. Vertraue du uns, Pilgrim, es ist auch unser Feind, den wir selbst erzeugten – Laß ihn<br />

eilen mit seinem Raub, er entflieht uns nicht.«

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