Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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sondern ich habe nur eine Ruhestätte gesucht, wo ich ungestört meinen Betrachtungen<br />
nachhängen könnte.« – »Hat Euch Euer Entschluß nie gereut, und kommen nicht zuweilen<br />
Stunden, wo Euch bange wird und Euer Herz nach einer Menschenstimme verlangt?« –<br />
»Jetzt nicht mehr. Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine heiße Schwärmerei mich<br />
veranlaßte, Einsiedler zu werden. Dunkle Ahndungen beschäftigten meine jugendliche<br />
Phantasie. Ich hoffte volle Nahrung meines Herzens in der Einsamkeit zu finden.<br />
Unerschöpflich dünkte mir die Quelle meines innern Lebens. Aber ich merkte bald, daß man<br />
eine Fülle <strong>von</strong> Erfahrungen dahin mitbringen muß, daß ein junges Herz nicht allein sein kann,<br />
ja daß der Mensch erst durch vielfachen Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse<br />
Selbständigkeit erlangt.«<br />
»Ich glaube selbst«, erwiderte der Alte, »daß es einen gewissen natürlichen Beruf zu jeder<br />
Lebensart gibt, und vielleicht, daß die Erfahrungen eines zunehmenden Alters <strong>von</strong> selbst auf<br />
eine Zurückziehung aus der menschlichen Gesellschaft führen. Scheint es doch, als sei<br />
dieselbe Tätigkeit, sowohl zum Gewinst als zur Erhaltung gewidmet. Eine große Hoffnung,<br />
ein gemeinschaftlicher Zweck treibt sie mit Macht; und Kinder und Alte scheinen nicht dazu<br />
zu gehören. Unbehülflichkeit und Unwissenheit schließen die ersten da<strong>von</strong> aus, während die<br />
letztern jene Hoffnung erfüllt, jenen Zweck erreicht sehen, und nun nicht mehr <strong>von</strong> ihnen in<br />
den Kreis jener Gesellschaft verflochten, in sich selbst zurückkehren, und genug zu tun<br />
finden, sich auf eine höhere Gemeinschaft würdig vorzubereiten. Indes scheinen bei Euch<br />
noch besondere Ursachen stattgefunden zu haben, Euch so gänzlich <strong>von</strong> den Menschen<br />
abzusondern und Verzicht auf alle Bequemlichkeiten der Gesellschaft zu leisten. Mich dünkt,<br />
daß die Spannung Eures Gemüts doch oft nachlassen und Euch dann unbehaglich zumute<br />
werden müßte.«<br />
»Ich fühlte das wohl, indes habe ich es glücklich durch eine strenge Regelmäßigkeit meines<br />
Lebens zu vermeiden gewußt. Dabei suche ich mich durch Bewegung gesund zu erhalten,<br />
und dann hat es keine Not. Jeden Tag gehe ich mehrere Stunden herum, und genieße den<br />
Tag und die Luft soviel ich kann. Sonst halte ich mich in diesen Hallen auf, und beschäftige<br />
mich zu gewissen Stunden mit Korbflechten und Schnitzen. Für meine Waren tausche ich mir<br />
in entlegenen Ortschaften Lebensmittel ein, Bücher hab ich mir mitgebracht, und so vergeht<br />
die Zeit, wie ein Augenblick. In jenen Gegenden habe ich einige Bekannte, die um meinen<br />
Aufenthalt wissen, und <strong>von</strong> denen ich erfahre, was in der Welt geschieht. Diese werden mich<br />
begraben, wenn ich tot bin und meine Bücher zu sich nehmen.«<br />
Er führte sie näher an seinen Sitz, der nahe an der Höhlenwand war. Sie sahen mehrere<br />
Bücher auf der Erde liegen, auch eine Zither, und an der Wand hing eine völlige Rüstung, die<br />
ziemlich kostbar zu sein schien. Der Tisch bestand aus fünf großen steinernen Platten, die<br />
wie ein Kasten zusammengesetzt waren. Auf der obersten lagen eine männliche und<br />
weibliche Figur in Lebensgröße eingehauen, die einen Kranz <strong>von</strong> Lilien und Rosen angefaßt<br />
hatten; an den Seiten stand:<br />
Friedrich und Marie <strong>von</strong> Hohenzollern<br />
kehrten auf dieser Stelle in ihr Vaterland zurück.<br />
Der Einsiedler fragte seine Gäste nach ihrem Vaterlande, und wie sie in diese Gegenden<br />
gekommen wären. Er war sehr freundlich und offen, und verriet eine große Bekanntschaft<br />
mit der Welt. Der Alte sagte: »Ich sehe, Ihr seid ein Kriegsmann gewesen, die Rüstung verrät<br />
Euch.« – »Die Gefahren und Wechsel des Krieges, der hohe poetische Geist, der ein<br />
Kriegsheer begleitet, rissen mich aus meiner jugendlichen Einsamkeit und bestimmten die<br />
Schicksale meines Lebens. Vielleicht, daß das lange Getümmel, die unzähligen<br />
Begebenheiten, denen ich beiwohnte, mir den Sinn für die Einsamkeit noch mehr geöffnet