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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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zusammenhängt, mit Fleiß und Mühe zu unterstützen. Nichts ist dem Dichter<br />

unentbehrlicher, als Einsicht in die Natur jedes Geschäfts, Bekanntschaft mit den Mitteln<br />

jeden Zweck zu erreichen, und Gegenwart des Geistes, nach Zeit und Umständen, die<br />

schicklichsten zu wählen. Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich, und der<br />

Dichter wird wenig Wunder tun können, wenn er selbst über Wunder erstaunt.«<br />

»Ist aber dem Dichter nicht ein inniger Glaube an die menschliche Regierung des Schicksals<br />

unentbehrlich?«<br />

»Unentbehrlich allerdings, weil er sich das Schicksal nicht anders vorstellen kann, wenn er<br />

reiflich darüber nachdenkt; aber wie entfernt ist diese heitere Gewißheit, <strong>von</strong> jener<br />

ängstlichen Ungewißheit, <strong>von</strong> jener blinden Furcht des Aberglaubens. Und so ist auch die<br />

kühle, belebende Wärme eines dichterischen Gemüts gerade das Widerspiel <strong>von</strong> jener<br />

wilden Hitze eines kränklichen Herzens. Diese ist arm, betäubend und vorübergehend; jene<br />

sondert alle Gestalten rein ab, begünstigt die Ausbildung der mannigfaltigsten Verhältnisse,<br />

und ist ewig durch sich selbst. Der junge Dichter kann nicht kühl, nicht besonnen genug sein.<br />

Zur wahren, melodischen Gesprächigkeit gehört ein weiter, aufmerksamer und ruhiger Sinn.<br />

Es wird ein verworrenes Geschwätz, wenn ein reißender Strom in der Brust tobt, und die<br />

Aufmerksamkeit in eine zitternde Gedankenlosigkeit auflöst. Nochmals wiederhole ich, das<br />

echte Gemüt ist wie das Licht, ebenso ruhig und empfindlich, ebenso elastisch und<br />

durchdringlich, ebenso mächtig und ebenso unmerklich wirksam als dieses köstliche<br />

Element, das auf alle Gegenstände sich mit feiner Abgemessenheit verteilt, und sie alle in<br />

reizender Mannigfaltigkeit erscheinen läßt. Der Dichter ist reiner Stahl, ebenso empfindlich,<br />

wie ein zerbrechlicher Glasfaden, und ebenso hart, wie ein ungeschmeidiger Kiesel.«<br />

»Ich habe das schon zuweilen gefühlt«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »daß ich in den innigsten Minuten<br />

weniger lebendig war, als zu andern Zeiten, wo ich frei umhergehn und alle Beschäftigungen<br />

mit Lust treiben konnte. Ein geistiges scharfes Wesen durchdrang mich dann, und ich durfte<br />

jeden Sinn nach Gefallen brauchen, jeden Gedanken, wie einen wirklichen Körper,<br />

umwenden und <strong>von</strong> allen Seiten betrachten. Ich stand mit stillem Anteil an der Werkstatt<br />

meines Vaters, und freute mich, wenn ich ihm helfen und etwas geschickt zustande bringen<br />

konnte. Geschicklichkeit hat einen ganz besondern stärkenden Reiz, und es ist wahr, ihr<br />

Bewußtsein verschafft einen dauerhafteren und deutlicheren Genuß, als jenes überfließende<br />

Gefühl einer unbegreiflichen, überschwenglichen Herrlichkeit.«<br />

»Glaubt nicht«, sagte Klingsohr, »daß ich das letztere tadle; aber es muß <strong>von</strong> selbst<br />

kommen, und nicht gesucht werden. Seine sparsame Erscheinung ist wohltätig; öfterer wird<br />

sie ermüdend und schwächend. Man kann nicht schnell genug sich aus der süßen Betäubung<br />

reißen, die es hinterläßt, und zu einer regelmäßigen und mühsamen Beschäftigung<br />

zurückkehren. Es ist wie mit den anmutigen Morgenträumen, aus deren einschläferndem<br />

Wirbel man nur mit Gewalt sich herausziehen kann, wenn man nicht in immer drückendere<br />

Müdigkeit geraten, und so in krankhafter Erschöpfung nachher den ganzen Tag hinschleppen<br />

will.«<br />

»Die Poesie will vorzüglich«, fuhr Klingsohr fort, »als strenge Kunst getrieben werden. Als<br />

bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig<br />

umherlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein<br />

reines offenes Gemüt, Gewandtheit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeit<br />

alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Tätigkeit zu versetzen und darin zu<br />

erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst. Wenn Ihr Euch mir überlassen wollt, so<br />

soll kein Tag Euch vergehn, wo Ihr nicht Eure Kenntnisse bereichert, und einige nützliche<br />

Einsichten erlangt habt. Die Stadt ist reich an Künstlern aller Art. Es gibt einige erfahrne

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