Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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›Gönnet mir‹, sagte der Mond, ›das Reich der Parzen, dessen seltsame Gebäude eben auf<br />
dem Hofe des Palastes aus der Erde gestiegen sind. Ich will euch mit Schauspielen darin<br />
ergötzen, wozu die kleine Fabel mir behülflich sein wird.‹<br />
Der König willigte in die Bitte, die kleine Fabel nickte freundlich, und das Volk freute sich<br />
auf den seltsamen unterhaltenden Zeitvertreib. Die Hesperiden ließen zur Thronbesteigung<br />
Glück wünschen, und um Schutz in ihren Gärten bitten. Der König ließ sie bewillkommen,<br />
und so folgten sich unzählige fröhliche Botschaften. Unterdessen hatte sich unmerklich der<br />
Thron verwandelt, und war ein prächtiges Hochzeitbett geworden, über dessen Himmel der<br />
Phönix mit der kleinen Fabel schwebte. Drei Karyatiden aus dunkelm Porphyr trugen es<br />
hinten, und vorn ruhte dasselbe auf einer Sphinx aus Basalt. Der König umarmte seine<br />
errötende Geliebte, und das Volk folgte dem Beispiel des Königs, und liebkoste sich<br />
untereinander. Man hörte nichts, als zärtliche Namen und ein Kußgeflüster. Endlich sagte<br />
Sophie: ›Die Mutter ist unter uns, ihre Gegenwart wird uns ewig beglücken. Folgt uns in<br />
unsere Wohnung, in dem Tempel dort werden wir ewig wohnen, und das Geheimnis der<br />
Welt bewahren.‹ Die Fabel spann emsig und sang mit lauter Stimme:<br />
Gegründet ist das Reich der Ewigkeit,<br />
In Lieb' und Frieden endigt sich der Streit,<br />
Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen,<br />
Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.«<br />
Zweiter Teil<br />
Die Erfüllung<br />
Das Kloster oder der Vorhof<br />
Astralis<br />
An einem Sommermorgen ward ich jung;<br />
Da fühlt' ich meines eignen Lebens Puls<br />
Zum erstenmal – und wie die Liebe sich<br />
In tiefere Entzückungen verlor,<br />
Erwacht' ich immer mehr, und das Verlangen<br />
Nach innigerer, gänzlicher Vermischung<br />
Ward dringender mit jedem Augenblick.<br />
Wollust ist meines Daseins Zeugungskraft,<br />
Ich bin der Mittelpunkt, der heilge Quell,<br />
Aus welchem jede Sehnsucht stürmisch fließt,<br />
Wohin sich jede Sehnsucht, mannigfach<br />
Gebrochen, wieder still zusammen zieht.<br />
Ihr kennt mich nicht und saht mich werden –<br />
Wart ihr nicht Zeugen, wie ich noch<br />
Nachtwandler mich zum ersten Male traf<br />
An jenem frohen Abend? Flog euch nicht<br />
Ein süßer Schauer der Entzündung an? –<br />
Versunken lag ich ganz in Honigkelchen.<br />
Ich duftete, die Blume schwankte still