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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Die Mutter gedachte der Kaufleute, die unten aus Gefälligkeit bei den Pferden geblieben<br />

waren. Sie sagte es ihrem Vater, welcher sogleich hinunterschickte, und sie einladen ließ<br />

heraufzukommen. Die Pferde wurden in die Ställe gebracht, und die Kaufleute erschienen.<br />

Schwaning dankte ihnen herzlich für die freundschaftliche Geleitung seiner Tochter. Sie<br />

waren mit vielen Anwesenden bekannt, und begrüßten sich freundlich mit ihnen. Die Mutter<br />

wünschte sich reinlich ankleiden zu dürfen. Schwaning nahm sie auf sein Zimmer, und<br />

<strong>Heinrich</strong> folgte ihnen in gleicher Absicht.<br />

Unter der Gesellschaft war <strong>Heinrich</strong>en ein Mann aufgefallen, den er in jenem Buche oft an<br />

seiner Seite gesehn zu haben glaubte. Sein edles Ansehn zeichnete ihn vor allen aus. Ein<br />

heitrer Ernst war der Geist seines Gesichts; eine offene schön gewölbte Stirn, große,<br />

schwarze, durchdringende und feste Augen, ein schalkhafter Zug um den fröhlichen Mund<br />

und durchaus klare, männliche Verhältnisse machten es bedeutend und anziehend. Er war<br />

stark gebaut, seine Bewegungen waren ruhig und ausdrucksvoll, und wo er stand, schien er<br />

ewig stehen zu wollen. <strong>Heinrich</strong> fragte seinen Großvater nach ihm. »Es ist mir lieb«, sagte<br />

der Alte, »daß du ihn gleich bemerkt hast. Es ist mein trefflicher Freund Klingsohr, der<br />

Dichter. Auf seine Bekanntschaft und Freundschaft kannst du stolzer sein, als auf die des<br />

Kaisers. Aber wie stehts mit deinem Herzen? Er hat eine schöne Tochter; vielleicht daß sie<br />

den Vater bei dir aussticht. Es sollte mich wundern, wenn du sie nicht gesehn hättest.«<br />

<strong>Heinrich</strong> errötete. »Ich war zerstreut, lieber Großvater. Die Gesellschaft war zahlreich, und<br />

ich betrachtete nur Euren Freund.« »Man merkt es, daß du aus Norden kömmst«, erwiderte<br />

Schwaning. »Wir wollen dich hier schon auftauen. Du sollst schon lernen nach hübschen<br />

Augen sehn.«<br />

Sie waren nun fertig und begaben sich zurück in den Saal, wo indes die Zurüstungen zum<br />

Abendessen gemacht worden waren. Der alte Schwaning führte <strong>Heinrich</strong>en auf Klingsohr zu,<br />

und erzählte ihm, daß <strong>Heinrich</strong> ihn gleich bemerkt und den lebhaftesten Wunsch habe mit<br />

ihm bekannt zu sein.<br />

<strong>Heinrich</strong> war beschämt. Klingsohr redete freundlich zu ihm <strong>von</strong> seinem Vaterlande und<br />

seiner Reise. Es lag soviel Zutrauliches in seiner Stimme, daß <strong>Heinrich</strong> bald ein Herz faßte und<br />

sich freimütig mit ihm unterhielt. Nach einiger Zeit kam Schwaning wieder zu ihnen und<br />

brachte die schöne Mathilde. »Nehmt Euch meines schüchternen Enkels freundlich an, und<br />

verzeiht es ihm, daß er eher Euren Vater als Euch gesehn hat. Eure glänzenden Augen<br />

werden schon die schlummernde Jugend in ihm wecken. In seinem Vaterland kommt der<br />

Frühling spät.«<br />

<strong>Heinrich</strong> und Mathilde wurden rot. Sie sahen sich einander mit Verwunderung an. Sie<br />

fragte ihn mit kaum hörbaren leisen Worten: ob er gern tanzte. Eben als er die Frage<br />

bejahte, fing eine fröhliche Tanzmusik an. Er bot ihr schweigend seine Hand; sie gab ihm die<br />

ihrige, und sie mischten sich in die Reihe der walzenden Paare. Schwaning und Klingsohr<br />

sahen zu. Die Mutter und die Kaufleute freuten sich über <strong>Heinrich</strong>s Behendigkeit und seine<br />

liebliche Tänzerin. Die Mutter hatte genug mit ihren Jugendfreundinnen zu sprechen, die ihr<br />

zu einem so wohlgebildeten und so hoffnungsvollen Sohn Glück wünschten. Klingsohr sagte<br />

zu Schwaning: »Euer Enkel hat ein anziehendes Gesicht. Es zeigt ein klares und umfassendes<br />

Gemüt, und seine Stimme kommt tief ans dem Herzen.« »Ich hoffe«, erwiderte Schwaning,<br />

»daß er Euer gelehriger Schüler sein wird. Mich däucht, er ist zum Dichter geboren. Euer<br />

Geist komme über ihn. Er sieht seinem Vater ähnlich; nur scheint er weniger heftig und<br />

eigensinnig. Jener war in seiner Jugend voll glücklicher Anlagen. Eine gewisse Freisinnigkeit<br />

fehlte ihm. Es hätte mehr aus ihm werden können als ein fleißiger und fertiger Künstler.« –<br />

<strong>Heinrich</strong> wünschte den Tanz nie zu endigen. Mit innigem Wohlbehagen ruhte sein Auge auf

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