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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Staatsmänner, einige gebildete Kaufleute hier. Man kann ohne große Umstände mit allen<br />

Ständen, mit allen Gewerben, mit allen Verhältnissen und Erfordernissen der menschlichen<br />

Gesellschaft sich bekannt machen. Ich will Euch mit Freuden in dem Handwerksmäßigen<br />

unserer Kunst unterrichten, und die merkwürdigsten Schriften mit Euch lesen. Ihr könnt<br />

Mathildens Lehrstunden teilen, und sie wird Euch gern die Gitarre spielen lehren. Jede<br />

Beschäftigung wird die übrigen vorbereiten, und wenn Ihr so Euren Tag gut angelegt habt, so<br />

werden Euch das Gespräch und die Freuden des gesellschaftlichen Abends, und die<br />

Ansichten der schönen Landschaft umher mit den heitersten Genüssen immer wieder<br />

überraschen.«<br />

»Welches herrliche Leben schließt Ihr mir auf, liebster Meister. Unter Eurer Leitung werde<br />

ich erst merken, welches edle Ziel vor mir steht, und wie ich es nur durch Euren Rat zu<br />

erreichen hoffen darf.«<br />

Klingsohr umarmte ihn zärtlich. Mathilde brachte ihnen das Frühstück, und <strong>Heinrich</strong> fragte<br />

sie mit zärtlicher Stimme, ob sie ihn gern zum Begleiter ihres Unterrichts und zum Schüler<br />

annehmen wollte. »Ich werde wohl ewig Euer Schüler bleiben«, sagte er, indem sich<br />

Klingsohr nach einer anderen Seite wandte. Sie neigte sich unmerklich zu ihm hin. Er<br />

umschlang sie und küßte den weichen Mund des errötenden Mädchens. Nur sanft bog sie<br />

sich <strong>von</strong> ihm weg, doch reichte sie ihm mit der kindlichsten Anmut eine Rose, die sie am<br />

Busen trug. Sie machte sich mit ihrem Körbchen zu tun. <strong>Heinrich</strong> sah ihr mit stillem<br />

Entzücken nach, küßte die Rose, heftete sie an seine Brust, und ging an Klingsohrs Seite, der<br />

nach der Stadt hinübersah.<br />

»Wo seid Ihr hergekommen?« fragte Klingsohr. »Über jenen Hügel herunter«, erwiderte<br />

<strong>Heinrich</strong>. »In jene Ferne verliert sich unser Weg.« – »Ihr müßt schöne Gegenden gesehn<br />

haben.« »Fast ununterbrochen sind wir durch reizende Landschaften gereiset.« – »Auch<br />

Eure Vaterstadt hat wohl eine anmutige Lage?« – »Die Gegend ist abwechselnd genug; doch<br />

ist sie noch wild, und ein großer Fluß fehlt ihr. Die Ströme sind die Augen einer Landschaft.«<br />

– »Die Erzählung Eurer Reise«, sagte Klingsohr, »hat mir gestern abend eine angenehme<br />

Unterhaltung gewährt. Ich habe wohl gemerkt, daß der Geist der Dichtkunst Euer<br />

freundlicher Begleiter ist. Eure Gefährten sind unbemerkt seine Stimmen geworden. In der<br />

Nähe des Dichters bricht die Poesie überall aus. Das Land der Poesie, das romantische<br />

Morgenland, hat Euch mit seiner süßen Wehmut begrüßt; der Krieg hat Euch in seiner wilden<br />

Herrlichkeit angeredet, und die Natur und Geschichte sind Euch unter der Gestalt eines<br />

Bergmanns und eines Einsiedlers begegnet.«<br />

»Ihr vergeßt das Beste, lieber Meister, die himmlische Erscheinung der Liebe. Es hängt nur<br />

<strong>von</strong> Euch ab, diese Erscheinung mir auf ewig festzuhalten.« – »Was meinst du«, rief<br />

Klingsohr, indem er sich zu Mathilden wandte, die eben auf ihn zukam. »Hast du Lust,<br />

<strong>Heinrich</strong>s unzertrennliche Gefährtin zu sein? Wo du bleibst, bleibe ich auch.« Mathilde<br />

erschrak, sie flog in die Arme ihres Vaters. <strong>Heinrich</strong> zitterte in unendlicher Freude. »Wird er<br />

mich denn ewig geleiten wollen, lieber Vater?« »Frage ihn selbst«, sagte Klingsohr gerührt.<br />

Sie sah <strong>Heinrich</strong>en mit der innigsten Zärtlichkeit an. »Meine Ewigkeit ist ja dein Werk«, rief<br />

<strong>Heinrich</strong>, indem ihm die Tränen über die blühenden Wangen stürzten. Sie umschlangen sich<br />

zugleich. Klingsohr faßte sie in seine Arme. »Meine Kinder«, rief er, »seid einander treu bis in<br />

den Tod! Liebe und Treue werden euer Leben zur ewigen Poesie machen.«<br />

Achtes Kapitel

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