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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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<strong>Heinrich</strong> hörte das Schluchzen eines Kindes und eine tröstende Stimme. Er stieg tiefer<br />

durch das Gebüsch hinab, und fand ein bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer alten<br />

Eiche sitzen. Ein schönes Kind hing weinend an ihrem Halse, auch ihre Tränen flossen, und<br />

eine Laute lag neben ihr auf dem Rasen. Sie erschrak ein wenig, als sie den fremden Jüngling<br />

erblickte, der mit wehmütigem Gesicht sich ihr näherte.<br />

»Ihr habt wohl meinen Gesang gehört«, sagte sie freundlich. »Euer Gesicht dünkt mir<br />

bekannt, laßt mich besinnen – Mein Gedächtnis ist schwach geworden, aber Euer Anblick<br />

erweckt in mir eine sonderbare Erinnerung aus frohen Zeiten. O! mir ist, als glicht Ihr einem<br />

meiner Brüder, der noch vor unserm Unglück <strong>von</strong> uns schied, und nach Persien zu einem<br />

berühmten Dichter zog. Vielleicht lebt er noch, und besingt traurig das Schicksal seiner<br />

Geschwister. Wüßt ich nur noch einige seiner herrlichen Lieder, die er uns hinterließ! Er war<br />

edel und zärtlich, und kannte kein größeres Glück als seine Laute.« Das Kind war ein<br />

Mädchen <strong>von</strong> zehn bis zwölf Jahren, das den fremden Jüngling aufmerksam betrachtete und<br />

sich fest an den Busen der unglücklichen Zulima schmiegte. <strong>Heinrich</strong>s Herz war <strong>von</strong> Mitleid<br />

durchdrungen; er tröstete die Sängerin mit freundlichen Worten, und bat sie, ihm<br />

umständlicher ihre Geschichte zu erzählen. Sie schien es nicht ungern zu tun. <strong>Heinrich</strong> setzte<br />

sich ihr gegenüber und vernahm ihre <strong>von</strong> häufigen Tränen unterbrochne Erzählung.<br />

Vorzüglich hielt sie sich bei dem Lobe ihrer Landsleute und ihres Vaterlandes auf. Sie<br />

schilderte den Edelmut derselben, und ihre reine starke Empfänglichkeit für die Poesie des<br />

Lebens und die wunderbare, geheimnisvolle Anmut der Natur. Sie beschrieb die<br />

romantischen Schönheiten der fruchtbaren arabischen Gegenden, die wie glückliche Inseln<br />

in unwegsamen Sandwüsteneien lägen, wie Zufluchtsstätte der Bedrängten und<br />

Ruhebedürftigen, wie Kolonien des Paradieses, voll frischer Quellen, die über dichten Rasen<br />

und funkelnde Steine durch alte, ehrwürdige Haine rieselten, voll bunter Vögel mit<br />

melodischen Kehlen und anziehend durch mannigfaltige Überbleibsel ehemaliger<br />

denkwürdiger Zeiten. »Ihr würdet mit Verwunderung«, sagte sie, »die buntfarbigen, hellen,<br />

seltsamen Züge und Bilder auf den alten Steinplatten sehn. Sie scheinen so bekannt und<br />

nicht ohne Ursach so wohl erhalten zu sein. Man sinnt und sinnt, einzelne Bedeutungen<br />

ahnet man, und wird um so begieriger, den tiefsinnigen Zusammenhang dieser uralten<br />

Schrift zu erraten. Der unbekannte Geist derselben erregt ein ungewöhnliches Nachdenken,<br />

und wenn man auch ohne den gewünschten Fund <strong>von</strong> dannen geht, so hat man doch<br />

tausend merkwürdige Entdeckungen in sich selbst gemacht, die dem Leben einen neuen<br />

Glanz und dem Gemüt eine lange, belohnende Beschäftigung geben. Das Leben auf einem<br />

längst bewohnten und ehemals schon durch Fleiß, Tätigkeit und Neigung verherrlichten<br />

Boden hat einen besondern Reiz. Die Natur scheint dort menschlicher und verständlicher<br />

geworden, eine dunkle Erinnerung unter der durchsichtigen Gegenwart wirft die Bilder der<br />

Welt mit scharfen Umrissen zurück, und so genießt man eine doppelte Welt, die eben<br />

dadurch das Schwere und Gewaltsame verliert und die zauberische Dichtung und Fabel<br />

unserer Sinne wird. Wer weiß, ob nicht auch ein unbegreiflicher Einfluß der ehemaligen,<br />

jetzt unsichtbaren Bewohner mit ins Spiel kommt, und vielleicht ist es dieser dunkle Zug, der<br />

die Menschen aus neuen Gegenden, sobald eine gewisse Zeit ihres Erwachens kömmt, mit so<br />

zerstörender Ungeduld nach der alten Heimat ihres Geschlechts treibt, und sie Gut und Blut<br />

an den Besitz dieser Länder zu wagen anregt.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Glaubt ja<br />

nicht, was man euch <strong>von</strong> den Grausamkeiten meiner Landsleute erzählt hat. Nirgends<br />

wurden Gefangene großmütiger behandelt, und auch eure Pilger nach Jerusalem wurden mit<br />

Gastfreundschaft aufgenommen, nur daß sie selten derselben wert waren. Die meisten<br />

waren nichtsnutzige, böse Menschen, die ihre Wallfahrten mit Bubenstücken bezeichneten,<br />

und dadurch freilich oft gerechter Rache in die Hände fielen. Wie ruhig hätten die Christen

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