Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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Überdruß weitschweifig sind, aber doch gerade das Wissenswürdigste vergessen, dasjenige,<br />
was erst die Geschichte zur Geschichte macht, und die mancherlei Zufälle zu einem<br />
angenehmen und lehrreichen Ganzen verbindet. Wenn ich das alles recht bedenke, so<br />
scheint es mir, als wenn ein Geschichtschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte,<br />
denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst, Begebenheiten schicklich zu verknüpfen,<br />
verstehn. In ihren Erzählungen und Fabeln habe ich mit stillem Vergnügen ihr zartes Gefühl<br />
für den geheimnisvollen Geist des Lebens bemerkt. Es ist mehr Wahrheit in ihrem Märchen,<br />
als in gelehrten Chroniken. Sind auch ihre Personen und deren Schicksale erfunden: so ist<br />
doch der Sinn, in dem sie erfunden sind, wahrhaft und natürlich. Es ist für unsern Genuß und<br />
unsere Belehrung gewissermaßen einerlei, ob die Personen, in deren Schicksalen wir den<br />
unsrigen nachspüren, wirklich einmal lebten, oder nicht. Wir verlangen nach der Anschauung<br />
der großen einfachen Seele der Zeiterscheinungen, und finden wir diesen Wunsch gewährt,<br />
so kümmern wir uns nicht um die zufällige Existenz ihrer äußern Figuren.«<br />
»Auch ich bin den Dichtern«, sagte der Alte, »<strong>von</strong> jeher deshalb zugetan gewesen. Das<br />
Leben und die Welt ist mir klarer und anschaulicher durch sie geworden. Es dünkte mich, sie<br />
müßten befreundet mit den scharfen Geistern des Lichtes sein, die alle Naturen<br />
durchdringen und sondern, und einen eigentümlichen, zartgefärbten Schleier über jede<br />
verbreiten. Meine eigene Natur fühlte ich bei ihren Liedern leicht entfaltet, und es war, als<br />
könnte sie sich nun freier bewegen, ihrer Geselligkeit und ihres Verlangens froh werden, mit<br />
stiller Lust ihre Glieder gegeneinander schwingen, und tausenderlei anmutige Wirkungen<br />
hervorrufen.«<br />
»Wart Ihr so glücklich, in Eurer Gegend einige Dichter zu haben?« fragte der Einsiedler.<br />
»Es haben sich wohl zuweilen einige bei uns eingefunden, aber sie schienen Gefallen am<br />
Reisen zu finden, und so hielten sie sich meist nicht lange auf. Indes habe ich auf meinen<br />
Wanderungen nach Illyrien, nach Sachsen und Schwedenland nicht selten welche gefunden,<br />
deren Andenken mich immer erfreuen wird.«<br />
»So seid Ihr ja weit umhergekommen, und müßt viele denkwürdige Dinge erlebt haben.«<br />
»Unsere Kunst macht es fast nötig, daß man sich weit auf dem Erdboden umsieht, und es<br />
ist als triebe den Bergmann ein unterirdisches Feuer umher. Ein Berg schickt ihn dem<br />
andern. Er wird nie mit Sehen fertig, und hat seine ganze Lebenszeit an jener wunderlichen<br />
Baukunst zu lernen, die unsern Fußboden so seltsam begründet und ausgetäfelt hat. Unsere<br />
Kunst ist uralt und weit verbreitet. Sie mag wohl aus Morgen, mit der Sonne, wie unser<br />
Geschlecht, nach Abend gewandert sein, und <strong>von</strong> der Mitte nach den Enden zu. Sie hat<br />
überall mit andern Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und da immer das Bedürfnis den<br />
menschlichen Geist zu klugen Erfindungen gereizt, so kann der Bergmann überall seine<br />
Einsichten und seine Geschicklichkeit vermehren und mit nützlichen Erfahrungen seine<br />
Heimat bereichern.«<br />
»Ihr seid beinah verkehrte Astrologen«, sagte der Einsiedler. »Wenn diese den Himmel<br />
unverwandt betrachten und seine unermeßlichen Räume durchirren: so wendet ihr euren<br />
Blick auf den Erdboden, und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse<br />
der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte der Felsen und Berge, und die mannigfaltigen<br />
Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zukunft,<br />
während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt.«<br />
»Es ist dieser Zusammenhang nicht ohne Bedeutung«, sagte der Alte lächelnd. »Die<br />
leuchtenden Propheten spielen vielleicht eine Hauptrolle in jener alten Geschichte des<br />
wunderlichen Erdbaus. Man wird vielleicht sie aus ihren Werken, und ihre Werke aus ihnen