Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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zurückzubleiben, und sich während dieser Zeit weiter unter denselben umzusehn. <strong>Heinrich</strong><br />
blieb mit Freuden bei den Büchern, und dankte ihm innig für seine Erlaubnis. Er blätterte mit<br />
unendlicher Lust umher. Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden<br />
Sprache geschrieben war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der lateinischen und italienischen zu<br />
haben schien. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel<br />
ihm vorzüglich, ohne daß er eine Silbe da<strong>von</strong> verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er<br />
noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht<br />
zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er erschrak<br />
und glaubte zu träumen, aber beim wiederholten Ansehn konnte er nicht mehr an der<br />
vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem<br />
Bilde die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte. Allmählich fand er auf<br />
den andern Bildern die Morgenländerin, seine Eltern, den Landgrafen und die Landgräfin <strong>von</strong><br />
Thüringen, seinen Freund den Hofkaplan, und manche andere seiner Bekannten; doch waren<br />
ihre Kleidungen verändert und schienen aus einer andern Zeit zu sein. Eine große Menge<br />
Figuren wußte er nicht zu nennen, doch däuchten sie ihm bekannt. Er sah sein Ebenbild in<br />
verschiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er sich größer und edler vor. Die Gitarre ruhte in<br />
seinen Armen, und die Landgräfin reichte ihm einen Kranz. Er sah sich am kaiserlichen Hofe,<br />
zu Schiffe, in trauter Umarmung mit einem schlanken lieblichen Mädchen, in einem Kampfe<br />
mit wildaussehenden Männern und in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren.<br />
Ein Mann <strong>von</strong> ernstem Ansehn kam häufig in seiner Gesellschaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht<br />
vor dieser hohen Gestalt, und war froh sich Arm in Arm mit ihm zu sehn. Die letzten Bilder<br />
waren dunkel und unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes<br />
mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches schien zu fehlen. <strong>Heinrich</strong> war sehr<br />
bekümmert, und wünschte nichts sehnlicher, als das Buch lesen zu können, und vollständig<br />
zu besitzen. Er betrachtete die Bilder zu wiederholten Malen und war bestürzt, wie er die<br />
Gesellschaft zurückkommen hörte. Eine wunderliche Scham befiel ihn. Er getraute sich nicht,<br />
seine Entdeckung merken zu lassen, machte das Buch zu, und fragte den Einsiedler nur<br />
obenhin nach dem Titel und der Sprache desselben, wo er denn erfuhr, daß es in<br />
provenzalischer Sprache geschrieben sei. »Es ist lange, daß ich es gelesen habe«, sagte der<br />
Einsiedler. »Ich kann mich nicht genau mehr des Inhalts entsinnen. Soviel ich weiß, ist es ein<br />
Roman <strong>von</strong> den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worin die Dichtkunst in ihren<br />
mannigfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird. Der Schluß fehlt an dieser<br />
Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht habe, wo ich sie in der Verlassenschaft eines<br />
Freundes fand, und zu seinem Andenken aufhob.«<br />
Sie nahmen nun <strong>von</strong>einander Abschied, und <strong>Heinrich</strong> war bis zu Tränen gerührt. Die Höhle<br />
war ihm so merkwürdig, der Einsiedler so lieb geworden.<br />
Alle umarmten diesen herzlich, und er selbst schien sie lieb gewonnen zu haben. <strong>Heinrich</strong><br />
glaubte zu bemerken, daß er ihn mit einem freundlichen durchdringenden Blick ansehe.<br />
Seine Abschiedsworte gegen ihn waren sonderbar bedeutend. Er schien <strong>von</strong> seiner<br />
Entdeckung zu wissen und darauf anzuspielen. Bis zum Eingang der Höhlen begleitete er sie,<br />
nachdem er sie und besonders den Knaben gebeten hatte, nichts <strong>von</strong> ihm gegen die Bauern<br />
zu erwähnen, weil er sonst ihren Zudringlichkeiten ausgesetzt sein würde.<br />
Sie versprachen es alle. Wie sie <strong>von</strong> ihm schieden und sich seinem Gebet empfahlen, sagte<br />
er: »Wie lange wird es währen, so sehn wir uns wieder, und werden über unsere heutigen<br />
Reden lächeln. Ein himmlischer Tag wird uns umgeben, und wir werden uns freuen, daß wir<br />
einander in diesen Tälern der Prüfung freundlich begrüßten, und <strong>von</strong> gleichen Gesinnungen<br />
und Ahndungen beseelt waren. Sie sind die Engel, die uns hier sicher geleiten. Wenn euer