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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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›Der Flachs ist versponnen. Das Leblose ist wieder entseelt. Das Lebendige wird regieren,<br />

und das Leblose bilden und gebrauchen. Das Innere wird offenbart, und das Äußere<br />

verborgen. Der Vorhang wird sich bald heben, und das Schauspiel seinen Anfang nehmen.<br />

Noch einmal bitte ich, dann spinne ich Tage der Ewigkeit.‹ – ›Glückliches Kind‹, sagte der<br />

gerührte Monarch, ›du bist unsre Befreierin.‹ – ›Ich bin nichts als Sophiens Pate‹, sagte die<br />

Kleine. ›Erlaube, daß Turmalin, der Blumengärtner, und Gold mich begleiten. Die Asche<br />

meiner Pflegemutter muß ich sammeln, und der alte Träger muß wieder aufstehn, daß die<br />

Erde wieder schwebe und nicht auf dem Chaos liege.‹<br />

Der König rief allen dreien, und befahl ihnen, die Kleine zu begleiten. Die Stadt war hell,<br />

und auf den Straßen war ein lebhaftes Verkehr. Das Meer brach sich brausend an der hohlen<br />

Klippe, und Fabel fuhr auf des Königs Wagen mit ihren Begleitern hinüber. Turmalin<br />

sammelte sorgfältig die auffliegende Asche. Sie gingen rund um die Erde, bis sie an den alten<br />

Riesen kamen, an dessen Schultern sie hinunter klimmten. Er schien vom Schlage gelähmt,<br />

und konnte kein Glied rühren. Gold legte ihm eine Münze in den Mund, und der<br />

Blumengärtner schob eine Schüssel unter seine Lenden. Fabel berührte ihm die Augen, und<br />

goß das Gefäß auf seiner Stirn aus. Sowie das Wasser über das Auge in den Mund und<br />

herunter über ihn in die Schüssel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in allen Muskeln. Er<br />

schlug die Augen auf und hob sich rüstig empor. Fabel sprang zu ihren Begleitern auf die<br />

steigende Erde, und bot ihm freundlich guten Morgen. ›Bist du wieder da, liebliches Kind?‹<br />

sagte der Alte; ›habe ich doch immer <strong>von</strong> dir geträumt. Ich dachte immer, du würdest<br />

erscheinen, ehe mir die Erde und die Augen zu schwer würden. Ich habe wohl lange<br />

geschlafen.‹ ›Die Erde ist wieder leicht, wie sie es immer den Guten war‹, sagte Fabel. ›Die<br />

alten Zeiten kehren zurück. In kurzem bist du wieder unter alten Bekannten. Ich will dir<br />

fröhliche Tage spinnen, und an einem Gehülfen soll es auch nicht fehlen, damit du zuweilen<br />

an unsern Freuden teilnehmen, und im Arm einer Freundin Jugend und Stärke einatmen<br />

kannst. Wo sind unsere alten Gastfreundinnen, die Hesperiden?‹ – ›An Sophiens Seite. Bald<br />

wird ihr Garten wieder blühen, und die goldne Frucht duften. Sie gehen umher und sammeln<br />

die schmachtenden Pflanzen.‹<br />

Fabel entfernte sich, und eilte dem Hause zu. Es war zu völligen Ruinen geworden. Efeu<br />

umzog die Mauern. Hohe Büsche beschatteten den ehmaligen Hof, und weiches Moos<br />

polsterte die alten Stiegen. Sie trat ins Zimmer. Sophie stand am Altar, der wieder aufgebaut<br />

war. Eros lag zu ihren Füßen in voller Rüstung, ernster und edler als jemals. Ein prächtiger<br />

Kronleuchter hing <strong>von</strong> der Decke. Mit bunten Steinen war der Fußboden ausgelegt, und<br />

zeigte einen großen Kreis um den Altar her, der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren<br />

bestand. Ginnistan bog sich über ein Ruhebett, worauf der Vater in tiefem Schlummer zu<br />

liegen schien, und weinte. Ihre blühende Anmut war durch einen Zug <strong>von</strong> Andacht und Liebe<br />

unendlich erhöht. Fabel reichte die Urne, worin die Asche gesammelt war, der heiligen<br />

Sophie, die sie zärtlich umarmte.<br />

›Liebliches Kind‹, sagte sie, ›dein Eifer und deine Treue haben dir einen Platz unter den<br />

ewigen Sternen erworben. Du hast das Unsterbliche in dir gewählt. Der Phönix gehört dir. Du<br />

wirst die Seele unsers Lebens sein. Jetzt wecke den Bräutigam auf. Der Herold ruft, und Eros<br />

soll Freya suchen und aufwecken.‹<br />

Fabel freute sich unbeschreiblich bei diesen Worten. Sie rief ihren Begleitern Gold und<br />

Zink, und nahte sich dem Ruhebette. Ginnistan sah erwartungsvoll ihrem Beginnen zu. Gold<br />

schmolz die Münze und füllte das Behältnis, worin der Vater lag, mit einer glänzenden Flut.<br />

Zink schlang um Ginnistans Busen eine Kette. Der Körper schwamm auf den zitternden

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