Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
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›Hier bringe ich euch Taranteln‹, sagte sie zu den Alten, die ihre Lampe wieder angezündet<br />
hatten und sehr emsig arbeiteten. Sie erschraken, und die eine lief mit der Schere auf sie zu,<br />
um sie zu erstechen. Unversehens trat sie auf eine Tarantel, und diese stach sie in den Fuß.<br />
Sie schrie erbärmlich. Die andern wollten ihr zu Hülfe kommen und wurden ebenfalls <strong>von</strong><br />
den erzürnten Taranteln gestochen. Sie konnten sich nun nicht an Fabel vergreifen, und<br />
sprangen wild umher. ›Spinn uns gleich‹, riefen sie grimmig der Kleinen zu, ›leichte<br />
Tanzkleider. Wir können uns in den steifen Röcken nicht rühren, und vergehn fast vor Hitze,<br />
aber mit Spinnensaft mußt du den Faden einweichen, daß er nicht reißt, und wirke Blumen<br />
hinein, die im Feuer gewachsen sind, sonst bist du des Todes.‹ ›Recht gern‹, sagte Fabel und<br />
ging in die Nebenkammer.<br />
›Ich will euch drei tüchtige Fliegen verschaffen‹, sagte sie zu den Kreuzspinnen, die ihre<br />
luftigen Gewebe rundum an der Decke und den Wänden angeheftet hatten, ›aber ihr müßt<br />
mir gleich drei hübsche, leichte Kleider spinnen. Die Blumen, die hineingewirkt werden<br />
sollen, will ich auch gleich bringen.‹ Die Kreuzspinnen waren bereit und fingen rasch zu<br />
weben an. Fabel schlich sich zur Leiter und begab sich zu Arctur. ›Monarch‹, sagte sie, ›die<br />
Bösen tanzen, die Guten ruhn. Ist die Flamme angekommen?‹ ›Sie ist angekommen‹, sagte<br />
der König. ›Die Nacht ist vorbei und das Eis schmilzt. Meine Gattin zeigt sich <strong>von</strong> weitem.<br />
Meine Feindin ist versengt. Alles fängt zu leben an. Noch darf ich mich nicht sehn lassen,<br />
denn allein bin ich nicht König. Bitte was du willst.‹ – ›Ich brauche‹, sagte Fabel, ›Blumen, die<br />
im Feuer gewachsen sind. Ich weiß, du hast einen geschickten Gärtner, der sie zu ziehen<br />
versteht.‹ – ›Zink‹, rief der König, ›gib uns Blumen.‹ Der Blumengärtner trat aus der Reihe,<br />
holte einen Topf voll Feuer, und säete glänzenden Samenstaub hinein. Es währte nicht lange,<br />
so flogen die Blumen empor. Fabel sammelte sie in ihre Schürze, und machte sich auf den<br />
Rückweg. Die Spinnen waren fleißig gewesen, und es fehlte nichts mehr, als das Anheften<br />
der Blumen, welches sie sogleich mit vielem Geschmack und Behendigkeit begannen. Fabel<br />
hütete sich wohl die Enden abzureißen, die noch an den Weberinnen hingen.<br />
Sie trug die Kleider den ermüdeten Tänzerinnen hin, die triefend <strong>von</strong> Schweiß umgesunken<br />
waren, und sich einige Augenblicke <strong>von</strong> der ungewohnten Anstrengung erholten. Mit vieler<br />
Geschicklichkeit entkleidete sie die hagern Schönheiten, die es an Schmähungen der kleinen<br />
Dienerin nicht fehlen ließen, und zog ihnen die neuen Kleider an, die sehr niedlich gemacht<br />
waren und vortrefflich paßten. Sie pries während dieses Geschäftes die Reize und den<br />
liebenswürdigen Charakter ihrer Gebieterinnen, und die Alten schienen ordentlich erfreut<br />
über die Schmeicheleien und die Zierlichkeit des Anzuges. Sie hatten sich unterdes erholt,<br />
und fingen, <strong>von</strong> neuer Tanzlust beseelt, wieder an, sich munter umherzudrehen, indem sie<br />
heimtückisch der Kleinen langes Leben und große Belohnungen versprachen. Fabel ging in<br />
die Kammer zurück, und sagte zu den Kreuzspinnen: ›Ihr könnt nun die Fliegen getrost<br />
verzehren, die ich in eure Weben gebracht habe.‹ Die Spinnen waren so schon ungeduldig<br />
über das Hin- und Herreißen, da die Enden noch in ihnen waren und die Alten so toll<br />
umhersprangen; sie rannten also hinaus, und fielen über die Tänzerinnen her; diese wollten<br />
sich mit der Schere verteidigen, aber Fabel hatte sie in aller Stille mitgenommen. Sie<br />
unterlagen also ihren hungrigen Handwerksgenossen, die lange keine so köstlichen Bissen<br />
geschmeckt hatten, und sie bis auf das Mark aussaugten. Fabel sah durch die Felsenkluft<br />
hinaus, und erblickte den Perseus mit dem großen eisernen Schilde. Die Schere flog <strong>von</strong><br />
selbst dem Schilde zu, und Fabel bat ihn, Eros' Flügel damit zu verschneiden, und dann mit<br />
seinem Schilde die Schwestern zu verewigen, und das große Werk zu vollenden.<br />
Sie verließ nun das unterirdische Reich, und stieg fröhlich zu Arcturs Palaste.