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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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allen Umstehenden Zeichen der lebhaftesten Teilnahme, und die sonderbarsten Mienen und<br />

Gebärden, gleichsam als hätte jeder ein unsichtbares Werkzeug in Händen, womit er eifrig<br />

arbeite. Zugleich ließ sich eine sanfte, aber tief bewegende Musik in der Luft hören, die <strong>von</strong><br />

den im Saale sich wunderlich durcheinander schlingenden Sternen, und den übrigen<br />

sonderbaren Bewegungen zu entstehen schien. Die Sterne schwangen sich, bald langsam<br />

bald schnell, in beständig veränderten Linien umher, und bildeten, nach dem Gange der<br />

Musik, die Figuren der Blätter auf das kunstreichste nach. Die Musik wechselte, wie die<br />

Bilder auf dem Tische, unaufhörlich, und so wunderlich und hart auch die Übergänge nicht<br />

selten waren, so schien doch nur ein einfaches Thema das Ganze zu verbinden. Mit einer<br />

unglaublichen Leichtigkeit flogen die Sterne den Bildern nach. Sie waren in einer großen<br />

Verschlingung, bald wieder in einzelne Haufen schön geordnet, bald zerstäubte der lange<br />

Zug, wie ein Strahl, in unzählige Funken, bald kam durch immer wachsende kleinere Kreise<br />

und Muster wieder eine große, überraschende Figur zum Vorschein. Die bunten Gestalten in<br />

den Fenstern blieben während dieser Zeit ruhig stehen. Der Vogel bewegte unaufhörlich die<br />

Hülle seiner kostbaren Federn auf die mannigfaltigste Weise. Der alte Held hatte bisher auch<br />

sein unsichtbares Geschäft emsig betrieben, als auf einmal der König voll Freuden ausrief:<br />

›Es wird alles gut. Eisen, wirf du dein Schwert in die Welt, daß sie erfahren, wo der Friede<br />

ruht.‹ Der Held riß das Schwert <strong>von</strong> der Hüfte, stellte es mit der Spitze gen Himmel, dann<br />

ergriff er es und warf es aus dem geöffneten Fenster über die Stadt und das Eismeer. Wie ein<br />

Komet flog es durch die Luft, und schien an dem Berggürtel mit hellem Klange zu<br />

zersplittern, denn es fiel in lauter Funken herunter.<br />

Zu der Zeit lag der schöne Knabe Eros in seiner Wiege und schlummerte sanft, während<br />

Ginnistan seine Amme die Wiege schaukelte und seiner Milchschwester Fabel die Brust<br />

reichte. Ihr buntes Halstuch hatte sie über die Wiege ausgebreitet, daß die hellbrennende<br />

Lampe, die der Schreiber vor sich stehen hatte, das Kind mit ihrem Scheine nicht<br />

beunruhigen möchte. Der Schreiber schrieb unverdrossen, sah sich nur zuweilen mürrisch<br />

nach den Kindern um, und schnitt der Amme finstere Gesichter, die ihn gutmütig anlächelte<br />

und schwieg.<br />

Der Vater der Kinder ging immer ein und aus, indem er jedesmal die Kinder betrachtete<br />

und Ginnistan freundlich begrüßte. Er hatte unaufhörlich dem Schreiber etwas zu sagen.<br />

Dieser vernahm ihn genau, und wenn er es aufgezeichnet hatte, reichte er die Blätter einer<br />

edlen, göttergleichen Frau hin, die sich an einen Altar lehnte, auf welchem eine dunkle<br />

Schale mit klarem Wasser stand, in welches sie mit heiterm Lächeln blickte. Sie tauchte die<br />

Blätter jedesmal hinein, und wenn sie beim Herausziehn gewahr wurde, daß einige Schrift<br />

stehen geblieben und glänzend geworden war, so gab sie das Blatt dem Schreiber zurück,<br />

der es in ein großes Buch heftete, und oft verdrießlich zu sein schien, wenn seine Mühe<br />

vergeblich gewesen und alles ausgelöscht war. Die Frau wandte sich zuzeiten gegen<br />

Ginnistan und die Kinder, tauchte den Finger in die Schale, und sprützte einige Tropfen auf<br />

sie hin, die, sobald sie die Amme, das Kind, oder die Wiege berührten, in einen blauen Dunst<br />

zerronnen, der tausend seltsame Bilder zeigte, und beständig um sie herzog und sich<br />

veränderte. Traf einer da<strong>von</strong> zufällig auf den Schreiber, so fielen eine Menge Zahlen und<br />

geometrische Figuren nieder, die er mit vieler Emsigkeit auf einen Faden zog, und sich zum<br />

Zierat um den magern Hals hing. Die Mutter des Knaben, die wie die Anmut und Lieblichkeit<br />

selbst aussah, kam oft herein. Sie schien beständig beschäftigt, und trug immer irgendein<br />

Stück Hausgeräte mit sich hinaus: bemerkte es der argwöhnische und mit spähenden Blicken<br />

sie verfolgende Schreiber, so begann er eine lange Strafrede, auf die aber kein Mensch<br />

achtete. Alle schienen seiner unnützen Widerreden gewohnt. Die Mutter gab auf einige<br />

Augenblicke der kleinen Fabel die Brust; aber bald ward sie wieder abgerufen, und dann

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