Universitätsblätter 2009 - Gießener Hochschulgesellschaft
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Abb. 1: Lucie Jacobie und Lina Bindewald als Studentinnen<br />
der Universität Gießen im Jahr 1917 (Privatbesitz)<br />
rete Bieber, die bereits 1919 als eine der ersten<br />
Frauen im Deutschen Reich die Venia legendi<br />
an der Universität Gießen erlangte.<br />
Bemerkenswert sind die Schwankungen der<br />
Studentinnenzahlen je nach politischer und ökonomischer<br />
Situation des Landes, ein Phänomen,<br />
das bis in die sechziger Jahre beobachtet werden<br />
kann. Fehlte der männliche akademische<br />
Nachwuchs, wie in den beiden Weltkriegen,<br />
stiegen die Studentinnenzahlen, kamen die<br />
Männer aus dem Feld zurück, fi elen sie wieder.<br />
In der Weimarer Republik stiegen die Studentinnenzahlen<br />
in den späten zwanziger Jahren,<br />
um nach der Weltwirtschaftskrise wieder nach<br />
unten zu gehen. Ob Frauen studierten, hing<br />
stark davon ab, inwieweit sie sich von traditionellen<br />
Rollenklischees lösen konnten, von den<br />
finanziellen Mitteln, die ihnen bzw. ihren Familien<br />
zur Verfügung standen, und ob sie sich an<br />
den Universitäten mit den das Frauenstudium<br />
oft ablehnenden Professoren und männlichen<br />
Kommilitonen durchsetzen konnten. Waren<br />
akademisch ausgebildete Frauen politisch und<br />
wirtschaftlich nicht mehr opportun, wie in den<br />
Jahren der Weltwirtschaftskrise, wurden auch<br />
Gesetze erlassen, die das Studium für Frauen<br />
noch unattraktiver machten, wie z. B. ein 1932<br />
vom Reichstag erlassenes Gesetz, nach dem<br />
Beamtinnen, die heirateten, aus dem Dienst<br />
ausgeschlossen wurden.<br />
Die besonderen Schwierigkeiten, die Studentinnen<br />
im Kaiserreich und in der Weimarer<br />
Republik zu meistern hatten, schlugen mit der<br />
Machtübernahme der Nationalsozialisten in<br />
offene Diskriminierung um. „Die Hochschule<br />
gehört den Männern“, verkündete der Reichsschulungsleiter<br />
des Nationalsozialistischen<br />
Studentenbundes 1933 unverblümt, Frauen<br />
dürften nur „als Gäste“ studieren und auch nur<br />
solche Fächer, die sie auf ihre Rolle als Mutter<br />
vorbereiteten. Ein geschlechtsspezifischer Numerus<br />
clausus für Frauen, der ihren Anteil auf<br />
maximal zehn Prozent aller Studienanfänger<br />
festlegte, wurde 1934 erlassen, allerdings<br />
schon ein Jahr später wieder aufgegeben.<br />
Auch die Berufschancen der Studentinnen<br />
wurden durch zahlreiche diskriminierende<br />
Regelungen beschnitten, denn Führungspositionen<br />
sollten den Männern vorbehalten bleiben.<br />
Für jüdische Studentinnen bedeutete die<br />
Machtübernahme der Nationalsozialisten das<br />
Ende ihres Studiums. In Gießen wurden sie<br />
gemäß einer Entscheidung des hessischen<br />
Ministerialrats Ringshausen vom Juli 1933<br />
ohne Ausnahme von der Universität gewiesen.<br />
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam es<br />
zur Kehrtwende in der nationalsozialistischen<br />
Bildungspolitik. Frauen sollten nun den Platz<br />
der an die Front eingezogenen männlichen<br />
Kommilitonen einnehmen, wofür sogar mit<br />
Vergünstigungen und Stipendien für Frauen<br />
geworben wurde. Ab 1940 kam es zu einem<br />
massiven Anstieg der Studentinnenzahlen im<br />
Deutschen Reich. Diese Entwicklung schlug<br />
sich auch in Gießen nieder. Bis zum Sommersemester<br />
1944 erreichten Studentinnen einen<br />
phänomenalen Anteil von fast 40 Prozent. Insgesamt<br />
475 Frauen studierten nun an der <strong>Gießener</strong><br />
Universität, fast alle das Fach Medizin.<br />
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nutzte die<br />
westdeutsche Nachkriegsgesellschaft den historischen<br />
Neuanfang nicht für einen Neuanfang<br />
im Bildungswesen, vielmehr wurden das<br />
dreigliedrige Schulsystem und die klassische<br />
Ordinarienuniversität fortgeführt. Für Frauen<br />
galt wieder das bewährte Muster: Die Männer<br />
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