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Kirche mitten drin« Sozialer, struktureller und ... - Kirche findet Stadt

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epd-Dokumentation 10/2013 27<br />

seit den 1980er-Jahren ging das Ansehen der<br />

Politik <strong>und</strong> der Abgeordneten immer weiter zurück,<br />

das politische Interesse stagnierte bzw. sank<br />

wieder.<br />

In den 2000er Jahren ist die B<strong>und</strong>esrepublik eine<br />

Gesellschaft geworden, die von einer großen<br />

Mehrheit der Bürger als ungerecht erlebt wird. 3<br />

Solidarität, schon immer ein Mangelwert, wird als<br />

prekär empf<strong>und</strong>en. Dabei sind die Bürger bereit,<br />

sich solidarisch zu verhalten, aber der Meinung, in<br />

der Gesellschaft dazu nicht ermuntert, sondern<br />

dafür eher bestraft zu werden. Zwar ist die Bereitschaft<br />

zu mitmenschlichem Verhalten im christlichen<br />

Verständnis eine Bringschuld, aber unsere<br />

Gesellschaft ist keine christliche. Ob sie das in<br />

ihrer Breite je wahr, sei dahingestellt. Die meisten<br />

Menschen haben ein praktisch-handfestes Verständnis<br />

von Solidarität, das von der Idee der sozialen<br />

Gegenseitigkeit bestimmt wird. In der platten<br />

Politsprache hört sich das im Fall von Griechenland<br />

so an: »Solidarität ist keine Einbahnstraße!«<br />

Ein solcher Ton wird aber auch gegenüber Empfängern<br />

von Hartz IV angeschlagen.<br />

Viele Organisationen der Zivilgesellschaft sind<br />

ausdrücklich auf die Solidarität <strong>und</strong> deren Mangel<br />

bezogen. Jenseits der Logik von Markt <strong>und</strong> Macht<br />

wollen sie Gemeinschaft schaffen <strong>und</strong> fördern. Je<br />

mehr sie dem gerecht werden, desto zivilgesellschaftlicher<br />

sind sie. Das muss nicht heißen, dass<br />

sie sich alle caritativ mit dem sozialen Prekariat<br />

beschäftigen, sondern, dass sie zunächst in ihren<br />

Reihen einen sozialen Zusammenhang herstellen,<br />

der allen offen steht <strong>und</strong> der die sozialen Bande<br />

über Familie <strong>und</strong> Privatheit hinaus erweitert.<br />

Dieser Zusammenhalt kann selbst eine Schule der<br />

Solidarität sein, aber auch als ökonomische oder<br />

politische Ressource eingesetzt werden. Die Gewerkschaften<br />

verwandelten Teile des Prekariats<br />

in eine organisierte Arbeiterschaft. Seit den<br />

1960er Jahren <strong>und</strong> mit dem Niedergang des<br />

Staatssozialismus entstand allerdings eine Dienstleistungsgesellschaft,<br />

in der viele Menschen eine<br />

starke soziale Einbindung über die privaten Kreise<br />

hinaus nicht mehr haben.<br />

Die große Hoffnung war, dass die seit den 1960er-<br />

Jahren entstandenen neuen <strong>und</strong> »modernen«<br />

Formen der Zivilgesellschaft die sich seit den<br />

1980er Jahren auftuenden Lücken der sozialen<br />

Integration füllen würden, aber das war kaum der<br />

Fall. Die neuen, eher schwachen Formen der<br />

Organisation waren oft genug selbst von der Prekarität<br />

geprägt, die sich überwinden sollen. Demgegenüber<br />

mögen Gewerkschaften, Parteien, Verbände<br />

<strong>und</strong> <strong>Kirche</strong>n seit Jahrzehnten Millionen<br />

von Mitgliedern verlieren, sie sind jedoch weiterhin<br />

an die Machtstrukturen von Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Politik angeb<strong>und</strong>en. Sie verfügen damit über Ressourcen<br />

zum Überleben, unterliegen jedoch dem<br />

für ihre Legitimation schädlichen Einfluss der<br />

Macht. Die schwachen Strukturen der Zivilgesellschaft<br />

stehen dagegen für das Authentische, für<br />

den moralischen Impuls der Zivilgesellschaft,<br />

aber auch für die Ressourcen- <strong>und</strong> Machtlosigkeit<br />

des engagierten Bürgers. 4 Gerne zieht man sie zur<br />

Werbung für eine »Zivilgesellschaft« heran, die,<br />

verdeckt mit öffentlicher Rhetorik, im Kern stark<br />

vermachtet ist.<br />

Die an Staat <strong>und</strong> Wirtschaft angeb<strong>und</strong>enen Teile<br />

der Zivilgesellschaft reichen an ihren Rändern in<br />

das neue soziale Prekariat hinein, das sich in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik seit dem Höhepunkt der sozialen<br />

Integration in den 1970er-Jahren gebildet hat. Mit<br />

dem so genannten zweiten Arbeitsmarkt, dem<br />

bald ein dritter folgte, hat sich eine Grauzone<br />

herausgebildet, in der zivilgesellschaftliche Werte<br />

drohen, verloren gehen <strong>und</strong> die dazu beiträgt,<br />

dass sie auch in der Mehrheitsgesellschaft ausdünnen.<br />

Die Standards des ersten Arbeitsmarktes<br />

werden unterlaufen <strong>und</strong> in der Folge auch die des<br />

zivilgesellschaftlichen Engagements. Schuld daran<br />

ist ein Staat, der diese Grauzone geschaffen hat<br />

oder sie zulässt, <strong>und</strong> erst in zweiter Linie die<br />

sozialen Einrichtungen, die diese Möglichkeiten<br />

offensiv nutzen. Dennoch müssen sich Organisationen,<br />

die sich ausdrücklich ethisch legitimieren,<br />

fragen lassen, mit welcher Moral es sich verträgt,<br />

was sie da eigentlich tun.<br />

Ebenso wie die private Wirtschaft den anrüchigen<br />

Teil ihres Geschäfts gerne an Dritte auslagert, <strong>und</strong><br />

behauptet, mit deren ethisch zweifelhaften Praktiken<br />

nicht zu tun zu haben, verfahren zunehmend<br />

auch die machtnahen Organisationen der<br />

Zivilgesellschaft.<br />

Wenn der Staat einem sozialen Dienstleister die<br />

Mittel für soziale Auftragsarbeiten kürzt oder zu<br />

gering ansetzt, dann erpresst er ihn indirekt, auf<br />

jene zweifelhaften Verfahren in der rechtlichen<br />

Grauzone zurückzugreifen, die er geschaffen hat<br />

oder zulässt. Wenn der Dienstleister das hinnimmt,<br />

dann riskiert er, nicht mehr beanspruchen<br />

zu können, zur Zivilgesellschaft zu gehören. Er<br />

wird dann zu einem Wirtschaftsbetrieb <strong>und</strong> zwar<br />

mit oft noch geringerem ethischem Niveau als die<br />

reguläre Privatwirtschaft. Hintergr<strong>und</strong> dieser<br />

gesellschaftlichen Entwicklung ist die Ökonomisierung<br />

sozialer Beziehungen, die in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

seit dem Fall des Staatsozialismus forciert<br />

voranschreitet. Diese Entwicklung wird in

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