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Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in ...

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- 102 -<br />

Die Anwendung von Gewalt gegen den eigenen Körper kam nach heutigem Wissen wesentlich häufiger<br />

an der Front als etwa im Heimatkriegsgebiet vor. 191 BADER beschreibt <strong>die</strong> wegen „Selbstverstümmelung“<br />

verurteilten Gefangenen, wie er sie im <strong>Wehrmacht</strong>gefängnis erlebte, als<br />

»meist primitive Menschen, denen es an den geistigen Voraussetzungen fehlte, e<strong>in</strong>e solche Tat <strong>in</strong><br />

geeigneter Weise zu verschleiern, und <strong>die</strong> auch meist schon kurz nach der Tat, spätestens auf<br />

ärztlichen Vorhalt, <strong>die</strong> Selbstverletzung e<strong>in</strong>räumten. [...] Der Soldat, der sich <strong>die</strong> Handwurzel<br />

durchschoss, befand sich meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abnormen seelischen Verfassung, <strong>in</strong> Verzweiflung, Uebermüdung,<br />

Ueberreizung durch Trommelfeuer, psychologisch am besten dem Selbstmörder vergleichbar.«<br />

192<br />

Als Fallbeispiel soll hier August M. angeführt werden, der 1910 <strong>in</strong> Essen geboren wurde. M. erlernte<br />

den Beruf des Bergmanns und wurde später umherziehender Obsthändler; <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Zeit wurde er<br />

<strong>in</strong>sgesamt fünf Mal zu Geldstrafen verurteilt, und zwar je zweimal wegen Körperverletzung und Gewerbevergehen<br />

sowie e<strong>in</strong>mal wegen versuchten Diebstahls. Er wurde am 15.02.1940 Soldat und nach<br />

etwa sechswöchiger Ausbildung zur 9. Kompanie des Infanterie-Regiments 365 versetzt. Bereits vor<br />

Beg<strong>in</strong>n des Frankreich-Feldzugs wurde er zum Stab des III. Bataillons <strong>die</strong>ses Regiments komman<strong>die</strong>rt,<br />

wo er <strong>in</strong> der Verpflegungsausgabe e<strong>in</strong>gesetzt wurde; Diszipl<strong>in</strong>arstrafen hatte er nicht aufzuweisen. Da<br />

er sich »mehrere Nachlässigkeiten im Dienst« habe zu Schulden kommen lassen, teilte ihm se<strong>in</strong> Diszipl<strong>in</strong>arvorgesetzter<br />

am 18. September 1940 mit, dass er zu se<strong>in</strong>er Kompanie zurückbeordert werde und<br />

schon am folgenden Tage <strong>in</strong> Marsch gesetzt würde. 193 In der Nacht hatte M. Wach<strong>die</strong>nst; bevor er <strong>die</strong>sen<br />

antrat, musste er ordnungshalber dem wachhabenden Unteroffizier zeigen, dass se<strong>in</strong> mitgeführtes<br />

Gewehr ungeladen war, da <strong>die</strong> Soldaten nicht mit geladenen Waffen Wache stehen und auch ke<strong>in</strong>e<br />

Munition bei sich führen durften. Während des Wach<strong>die</strong>nstes unterhielt sich M. mit e<strong>in</strong>em Kameraden,<br />

wobei er gesagt haben soll, »er werde sich lieber etwas antun, als zur 9. Kompanie zurück[zu]gehen«.<br />

Am Morgen danach war er nach den gerichtlichen Ermittlungen e<strong>in</strong>e Zeit lang alle<strong>in</strong> im Bataillons-Verpflegungsraum,<br />

wo sich an der Wand Haken befanden, an denen Kleidungsstücke, Gewehre<br />

u. a. aufgehängt waren.<br />

»Der Angeklagte nahm e<strong>in</strong>es der Gewehre vom Haken und schoss sich damit durch <strong>die</strong> rechte<br />

Hand. Die Hand lag dabei mit dem Handteller fest auf der Gewehrmündung. Der Schuss zerschmetterte<br />

den Mittelhandknochen des rechten Zeigef<strong>in</strong>gers. Der Angeklagte selbst hatte vorher<br />

das Gewehr zu e<strong>in</strong>em nicht feststellbaren Zeitpunkt mit 2 Patronen geladen. Die Patronen hatte er<br />

<strong>in</strong> der Schublade e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> dem Verpflegungsraum aufgestellten Tisches gefunden, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Leute<br />

geme<strong>in</strong>sam kle<strong>in</strong>e Gebrauchsgegenstände aufbewahrten. Die Patronen waren vorher von dem<br />

Zeugen N. gefunden und <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Schublade gelegt worden.« 194<br />

Im Feldlazarett musste M. der rechte Zeigef<strong>in</strong>ger amputiert werden. Vier Wochen später sei er wieder<br />

»voll feld<strong>die</strong>nstfähig« gewesen.<br />

191 HAASE – Gefahr 1996, S. 182.<br />

192 BADER 1945, S. 112. – Mit denjenigen, <strong>die</strong> solche Handlungen besser „verschleiern“ konnten, me<strong>in</strong>t er<br />

»Leute [...], <strong>die</strong> mit Beharrlichkeit e<strong>in</strong>e Krankheit simulierten oder Krankheitssymptome zu erzeugen verstanden«.<br />

Solche „Simulanten“ seien bei den Strafzumessungen sogar zumeist »billiger weg[gekommen] als<br />

<strong>die</strong> groben Fälle der Selbstverstümmelung«. BADERs bitterer Kommentar: »Wie so oft <strong>in</strong> der Justiz entschied<br />

der äußere Erfolg« (Ebd.). – Zu „Simulanten“ siehe auch Kap. 4.3.2.3.<br />

193 Urteil d. Ger. d. 211. Inf.-Div., Ort? (St. L. Nr. 311/40) gegen August M., 16.12.1940, StA OS, Rep. 947 L<strong>in</strong><br />

II Nr. 4910 (= KW 1983, Dok. C II a/4.30, S. 1706 - 1709). – Zum Beruf von M siehe u. a.: Gef.-Buch d.<br />

SGL I, 1943, Gef.-Nr. 116/43, StA OS, ebd. L<strong>in</strong> I Nr. 1196 Bd. V.<br />

194 Urteil gegen M., 16.12.1940, ebd.

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