Stenographischer Bericht 227. Sitzung - Deutscher Bundestag
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22458<br />
Bundesminister Joseph Fischer<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 14. Wahlperiode – <strong>227.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Donnerstag, den 21. März 2002<br />
zu vereinbaren. Gemeinsam mit unseren französischen<br />
Partnern haben wir eine Liberalisierung von 60 Prozent<br />
erreicht. Der Bundeskanzler hat dargestellt, warum. Aber<br />
ich bitte Sie: 60 Prozent sind nicht mehr nur ein halb<br />
volles Glas, sondern schon deutlich mehr. Wir haben ganz<br />
konkrete Dinge erreicht.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD)<br />
Bei allem Respekt muss ich auch auf Kleinigkeiten<br />
hinweisen. In Kalifornien ist schon mehrfach eine Energiekrise<br />
ausgebrochen. Ich will keinem einen Vorwurf<br />
machen, aber wir müssen feststellen, dass es dort kein gesamtkontinentales<br />
Stromnetz gibt. Auch andere Dinge<br />
gibt es dort nicht. Wir haben uns angewöhnt, unsere eigenen<br />
Stärken wie Solidität und soziale Stabilität trotz aller<br />
Probleme, die wir haben – ich will dies überhaupt nicht<br />
abstreiten –, in den Hintergrund zu stellen.<br />
Wir sind sicherlich nicht so dynamisch wie unsere<br />
Partner auf der anderen Seite des Atlantiks.<br />
(Dr. Helmut Haussmann [FDP]: So ist es!)<br />
Aber dafür gibt es Gründe. Wer den kulturellen historischen<br />
Hintergrund von Marktwirtschaft ausblendet, wird<br />
gegen die Wand fahren.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD)<br />
Für die USA sind Freiheit und gesellschaftliche Selbstorganisation<br />
– das ist von ganz entscheidender Bedeutung;<br />
deswegen hat auch die Übertragung dieser Modelle<br />
auf Russland nach der Wende niemals funktionieren können<br />
– zentrale Elemente der Kultur und damit auch der<br />
Wirtschaft dieses Landes.<br />
Wir Europäer haben einen ganz anderen historischen<br />
Kontext. Für unser Land ist – insbesondere aufgrund des<br />
Dramas des 20. Jahrhunderts, aber auch der Zeit davor –<br />
die Frage der Sicherheit von ganz anderer Bedeutung gewesen.<br />
Nun werden wir ein Stück weit in Richtung mehr<br />
Freiheit gehen müssen. Das wird im demokratischen Prozess<br />
auszufechten sein. Aber wer ignoriert, dass es höchst<br />
unterschiedliche Bedingungen gibt und dass aus der<br />
größeren Stabilitätsorientierung der Europäer gleichzeitig<br />
so etwas wie sozialer Zusammenhalt entsteht und – so behaupte<br />
ich – entstehen muss, wenn man ein Interesse an<br />
demokratischer Integration in Europa hat, wird meines<br />
Erachtens den gesamten Prozess gefährden.<br />
Deswegen wissen wir uns dem Modell des sozialen<br />
Wandels im Konsens auf der Grundlage der europäischen<br />
Tradition verpflichtet. Wir wollen die Vollendung der<br />
europäischen Integration in einem überschaubaren Zeitraum,<br />
also noch in diesem Jahrzehnt. Aber wir werden die<br />
Menschen mitnehmen und nichts gegen die Menschen in<br />
unserem Lande machen.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD)<br />
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort<br />
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.<br />
Uwe Hiksch (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen! Wer die technokratische Rede von<br />
Herrn Merz gehört hat, kann sich nur noch wundern. Man<br />
hat bei Ihnen, Herr Merz, den Eindruck, dass Sie hier am<br />
liebsten verkündet hätten: Wirtschaftstheorie erfüllt,<br />
20 000 Holzmann-Kumpel arbeitslos. Eine solche Politik,<br />
die pragmatisches Handeln in der Wirtschaftspolitik und<br />
das Einbringen von politischem Gewicht nicht als notwendig<br />
ansieht, ist zum Scheitern verurteilt, bringt soziale<br />
Kälte mit sich und grenzt die Menschen ein Stück weit<br />
aus. – Die PDS ist immer dafür eingetreten, dass sich Politiker<br />
auf lokaler Ebene als Bürgermeister oder Landräte<br />
darum kümmern müssen, wenn klein- und mittelständische<br />
Unternehmen in der Region in Schwierigkeiten kommen.<br />
– Sie haben das auch gemacht und das, Herr Merz,<br />
ist der Grund dafür, warum Ihre Landräte und Kommunalpolitiker<br />
reihenweise abgewählt und durch PDS-Landräte<br />
und PDS-Kommunalpolitiker ersetzt werden.<br />
(Beifall bei der PDS)<br />
Der Barcelona-Gipfel muss daran gemessen werden,<br />
ob das Ziel, Europa zum dynamischsten, wettbewerbsfähigsten<br />
und nachhaltigsten Wirtschaftsraum der Welt<br />
weiterzuentwickeln, erreicht worden ist. Wir müssen feststellen,<br />
dass das nicht gelungen ist. Wir konnten sehen,<br />
dass es in Barcelona zwei Gipfel gegeben hat: auf der einen<br />
Seite einen Gipfel, auf dem über 500 000 Menschen<br />
auf die Straße gegangen sind, und zwar Menschen unterschiedlichster<br />
Prägung, aus Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaften,<br />
aus Sozialverbänden, Landwirte, die Angst<br />
haben, ihre Bauernhöfe dichtmachen zu müssen, Menschen,<br />
die spüren, dass in Europa das Kapital und die<br />
Großunternehmen immer weiter vorangebracht werden,<br />
während die Sorgen und die Nöte der kleinen Leute immer<br />
mehr vergessen werden. Diese Menschen haben in<br />
Europa deutlich gemacht: Wir wollen ein anderes Europa,<br />
wir wollen ein Europa der Menschen und setzen uns dafür<br />
ein, dass Europa auch für die Menschen arbeitet.<br />
(Beifall bei der PDS)<br />
Herr Fischer, eines werfe ich Ihnen und der rot-grünen<br />
Bundesregierung vor: Sie haben das Gespür dafür verloren,<br />
dass Europa nicht zu einem Europa der Gipfel werden<br />
darf, bei denen sich Politikerinnen und Politiker,<br />
geschützt durch 9 000 Polizisten, Militärs und Flugabwehrraketen,<br />
in einer Burg einigeln, die kein Mensch<br />
mehr erreichen kann. Es muss gelingen, dass sich die politische<br />
Klasse der Bundesrepublik und Europas wieder<br />
den Menschen stellt, die Anforderungen an die Politik haben,<br />
zum Beispiel den Gewerkschaften, und mit ihnen gemeinsam<br />
über die Sorgen und Nöte Europas diskutiert. Es<br />
muss eine Politik geben, die wieder erkennt, dass die<br />
Armut und die Ausgrenzung in Europa zunehmen, eine<br />
Politik, die wahrnimmt, dass sich die Arbeitslosigkeit in<br />
Europa auf höchstem Stand festgefressen hat. Eine solche<br />
Politik muss den Dialog mit den Initiativen pflegen und<br />
aufnehmen, was ATTAC, die Euromarschbewegung und<br />
die Arbeitslosenbewegung Europas in die politische Debatte<br />
eingebracht haben. Eine solche Politik hat die rotgrüne<br />
Bundesregierung aber aus den Augen verloren.<br />
Wir glauben, dass die Aufgabe der Linken in Europa<br />
darin bestehen muss, das aufzugreifen, was auf den De-<br />
(C)<br />
(D)