open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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wie die Massen von Schmuck, den sie trug, allerdings alles<br />
aus Plastik, ihre Ringe, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger<br />
der anderen Hand hin- und herdrehte, immer wieder,<br />
während er sprach, ihn mit leicht gebeugtem Kopf betrachtend,<br />
als hätte sie noch nie zuvor von Novalis gehört. Sein<br />
Gürtel, der einzige, der farblich zum Jackett passte, saß<br />
stramm und kniff mit jeder Treppenstufe. Wann hatte er so<br />
zugenommen, überhaupt kam es ihm vor, als entdecke er jeden<br />
Tag zehn neue Falten in seinem Gesicht und übermorgen würde<br />
er aussehen wie eine verfaulte Apfelsine. Er stieg weiter<br />
hinauf, an den Wohnungstüren, Fußmatten, Haus- und Straßenschuhen<br />
vorbei. Was die Nutzung des kleinen Vorraums, den<br />
so ein Treppenhaus bot, anging, glichen sich die Menschen<br />
erstaunlich. Eine Fußmatte gehörte zum Wohnungstürvorraum-<br />
Standard, versteht sich, aber auch Zimmerpflanzen schienen<br />
unverzichtbar, wieso Zimmerpflanzen außerhalb der eigenen<br />
Zimmer, und anscheinend entledigte sich alle Welt ihrer<br />
Schuhe schon vor dem Eintreten in die Wohnung, wäre er auf<br />
Schuhdiebstahl aus, ein wahres Eldorado hier. Das Licht fiel<br />
aus dem hohen Fenster auf den Bügel seiner Brille und blendete<br />
ihn im Augenwinkel. In seiner rechten Hand raschelte<br />
das Papier des Lilienstraußes, und er ließ die Rotweinflasche<br />
in seiner Linken fröhlich mit seinen Bewegungen schwingen,<br />
als er wieder an sie und den bevorstehenden Abend dachte.<br />
Na-ta-lie, da oben wartete sie auf ihn bei Kerzen und Jazz.<br />
Sein Atem beschwerte sich, er war wirklich nicht mehr in Form.<br />
Bei dem nächsten Fenster musste er sich kurz anlehnen, er<br />
kippte es und sog die kalte Luft ein. Alt war er geworden.<br />
Wie Natalie das bloß aushielt, im obersten Stock, noch dazu,<br />
wenn sie Einkäufe zu tragen hatte! Draußen dämmerte es, er<br />
musste sich vorbeugen, um noch die Bürgersteige zu erkennen,<br />
fingernagelgroß, die Leute auf der Straße von hier oben.<br />
Bestimmt war er schon im sechsten Stock. Gleich hatte er es<br />
geschafft. Er seufzte, schloss das Fenster und ging weiter<br />
hinauf. Ihn beschlich langsam das Gefühl, sich zu verspäten,<br />
doch er hatte seine Armbanduhr vergessen, ein Mann ohne<br />
Uhr, dachte er, als hätte er keine Termine, vielleicht fiel<br />
es ihr ja nicht auf. Er zählte die Stufen, zwölf Stück, dann<br />
scharfe Wendung nach links, an der nackten Wand entlang, noch<br />
mal zwölf Stufen, nächstes Stockwerk, nächste Tür. Seine<br />
Beine, besonders die Waden, wurden immer träger, sein Gürtel<br />
kniff ihn, wieder musste er anhalten, hoffentlich kam ihm<br />
jetzt niemand entgegen, er ordnete das Schlamassel zwischen<br />
den Beinen so gut es ging. Er beschloss, sich zu eilen, ihm<br />
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