open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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kam es vor, als liefe er schon zwanzig Minuten aufwärts, der<br />
Geruch der Lilien stach in seine Nase, hätte er bloß die<br />
Rosen genommen, und die Weinflasche wurde ihm lästig. Wie<br />
viele Stockwerke hatte dieses Haus? Von draußen war es ihm<br />
gar nicht so hoch vorgekommen. Hatte er es überhaupt näher<br />
betrachtet, er wusste es nicht, und jedes Mal, wenn er nach<br />
dem Ende einer Stufenfolge um die Ecke bog, hatte er dieses<br />
Gefühl, so, das war’s aber jetzt, doch das war es nicht,<br />
noch kein letztes Geschoss, sondern neue, noch unbestiegene<br />
Stufen, denen er ausgelaugt gegenübertrat und die ihn mit<br />
ihrem grauen Linoleumglanz verhöhnten. Er schwitzte und er<br />
hatte Durst. Er brauchte noch eine Pause am Fenster, sollte<br />
das nächste Stockwerk nicht das Letzte sein – doch das musste<br />
es, ganz sicher – nein, das war es nicht. Und da war auch<br />
kein Fenster wie in den ersten paar Etagen, wie konnte ihm<br />
die zunehmende Dunkelheit entgangen sein, nur runde Wände<br />
aus Rauputz, die von einer Zwölfer-Stufenfolge zur nächsten<br />
überleiteten, erbarmungslos. Er musste sich nun mindestens<br />
im zwanzigsten Stock befinden. Die Hitze wurde unerträglich,<br />
die Weinflasche schwerer und schwerer, er zog sein nasses<br />
Jackett aus, nahm es in die rechte Hand, das Verpackungspapier<br />
des Blumenstraußes raschelte, die einzigen Geräusche<br />
in diesem Niemandsland, dieses Rascheln und seine Sohlen auf<br />
dem Boden, die sich anhörten wie das Kehren auf Asphalt,<br />
unten vor den Geschäften, an der kühlen, frischen Luft. Es<br />
zog jetzt vor allem in den Oberschenkeln, an ihrer Rückseite<br />
hoch und runter, der Gürtel zwickte ihn, wieder hielt er inne,<br />
stellte den Gürtel lockerer, musste nun aber darauf achten,<br />
dass seine Hose nicht abwärts rutschte. Das Hemd war inzwischen<br />
auch auf Bauch- und Brusthöhe durchnässt und sein Atem<br />
rasselte, sein Gaumen war staubtrocken. Er musste an den<br />
Wein, sofort. Er setzte sich unter Keuchen auf die Stufen,<br />
öffnete den Wein und stürzte die halbe Flasche hinunter. Den<br />
Rest ließ er stehen, zuviel wog die Last. Es ging weiter<br />
hinauf, dieselbe mechanische Bewegung der Füße, ein Tunnel<br />
nach oben aus Rohrputz und Linoleum, aus Weiß und Grau und<br />
dem stechenden Gelb des elektrischen Lichts, aus Liliengestank,<br />
eine Hölle aus Stufen. Ihm war schwindelig, doch<br />
er stieg tapfer weiter, Stockwerk um Stockwerk, es war zu<br />
spät zum Umkehren, denn das nächste Stockwerk musste das<br />
letzte sein, und dort war alles frisch und alles Flieder,<br />
immer wieder das nächste. Sein Gesicht musste krebsrot aussehen,<br />
nass glänzend und krebsrot, mit hervortretenden blauen<br />
Adern an seinen Schläfen als Kontrast, er riss das Papier<br />
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