open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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Wenn ich um mich schaue, sehe ich Fußspuren. Verschiedene.<br />
Sie kommen von irgendwo her, überkreuzen sich, führen in die<br />
Ferne und verschwinden am Horizont. Doch deine Fußspuren im<br />
Schnee hören plötzlich neben mir auf.<br />
Eine schwarze Masse und du mitten drin in Weiß. Nur die<br />
Rosen unterscheiden dich vom Schnee. Du hast, seit ich dich<br />
kenne, immer nur schwarze Sachen getragen. Wie einen Mantel,<br />
der dich vor der Außenwelt schützt. Vielleicht musste das<br />
so sein, sonst hätten sie, hätten wir dich zerbrochen. Ich<br />
nehme eine Hand voll Erde und bewerfe dich, nehme zwei Hände<br />
voll bunter Blüten und lasse sie auf dich hinabsegeln.<br />
***<br />
Der Gürtel liegt kühl um meinen Hals. Ich spüre das<br />
Pulsieren meiner Halsschlagader. Nur ein Sprung, und ich bin<br />
vielleicht bei dir. Im Wald ist es schon dunkel und etwas<br />
kühl. Wenn ich hier so auf dem Ast sitze und die Beine baumeln<br />
lasse, frage ich mich, was dein letzter Gedanke war,<br />
dein letztes Bild vom Leben. Ich schließe meine Augen und<br />
sehe dein Lächeln, am Abend, bevor es passiert ist, höre<br />
deine Stimme, und es scheint, als wärst du gar nicht so weit<br />
entfernt. Alle sagen, du seiest ganz weit weg, sind traurig,<br />
aber ich habe mich dir in der letzten Zeit noch nie so<br />
nah gefühlt.<br />
Die Erinnerungen an dich werden plötzlich von tiefen<br />
Tönen durchbrochen. Wie eine Strömung ziehen sie mich in einen<br />
Sog von Klängen. Die Töne werden zu Tonflächen, die den Wald<br />
umhüllen. Ich schaue um mich und sehe in einiger Entfernung<br />
ein winziges Orange tanzen. Etwas in mir regt sich. Neugier?<br />
Ein Antrieb, den ich seit langem nicht mehr gespürt habe.<br />
Ich löse den Gürtel von meinem Hals, klettere den Ast hinunter<br />
und laufe barfuß in Richtung der Klänge. Nach einer<br />
Weile bleibe ich vor einer Kapelle stehen, mitten im Wald.<br />
Durch ein schmales Fenster sehe ich flackerndes Licht. Es<br />
ist keine Musik, die sich zuordnen lässt. Eher eine Aneinanderreihung<br />
von Tongeflechten, die sich manchmal auflösen,<br />
dann wieder Klumpen bilden, die tief im Magen sitzen. Mir<br />
scheint es strukturlos, aber irgendetwas hält das Ganze zusammen,<br />
ich sehe nur nicht, was. Abrupt hört das Stück auf<br />
und endet mit einem durchdringenden Ton. Er hallt nach,<br />
sitzt immer noch tief in mir und zieht mich nach unten. Die<br />
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