open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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Eine Lehrerin wartet auf ihn, „Gries“, sagt sie, „ich unterrichte<br />
Kunst und Mathe und hatte ihn in beiden Fächern.“<br />
Er nickt.<br />
Er merkt, dass der Kaffee sich in ihm breitmacht, mit<br />
Migräne vermischt und nicht mehr loslässt; er will eine Frage<br />
stellen, aber die riesigen Fenster um ihn herum überblenden<br />
jeden klaren Gedanken. Das Gefühl der unsichtbaren Kameras,<br />
die sich durch die Scheiben hindurch immer näher an sein<br />
Gesicht heranpirschen, lässt ihn nicht mehr los. Er zieht<br />
den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag nach oben.<br />
Im Gehen sagt sie: „Ich zeige Ihnen die besprühte Wand,<br />
kommen Sie.“ Ihre Stimme ist weich. Es ist die Wand vor dem<br />
Kunstraum, von oben bis unten ziehen sich die Flecken und<br />
Linien in ausschließlich dunkelroter Farbe, er hat noch nie<br />
so ein wirres Zerrbild gesehen. Vielleicht liegt es an den<br />
Kopfschmerzen, dass er nichts erkennen kann. Die Wand ist<br />
riesig, wie alles hier, mittendrin ist eine geschlossene<br />
Tür, der Knauf ein einziger roter Fleck, in alle Richtungen<br />
ist die Farbe abgespritzt. „Er muss es Minuten vorher gemacht<br />
haben“, sagt sie. „Ich kannte ihn ganz gut.“ Er wendet<br />
sich ab, ihre Stimme ist zu weich, zu niedergedrückt, um<br />
Antworten zu finden, die Sinn ergeben.<br />
„Können Sie irgendwas erkennen“, sagt er und merkt, dass<br />
überhaupt nichts mehr passt, weder sie noch seine Stimme<br />
noch das Bild.<br />
„Ich kann es noch nicht mal vergleichen mit Bildern, die<br />
er sonst abgegeben hat“, sagt sie leise. „Er hat überhaupt<br />
keine Bilder abgegeben, seit mindestens einem Jahr nicht<br />
mehr. Eigentlich hätte ich ihm eine nicht mehr ausreichende<br />
Note geben müssen.“ Sie wartet einen Moment. „Nein, ich<br />
kann nichts erkennen.“<br />
Er fragt nach seinen sonstigen Noten und versinkt dabei.<br />
„Er war unangepasst“, sagt sie. „Er ist keiner Richtung gefolgt,<br />
aber er hat es nicht gemerkt, glaube ich. Er hat nicht<br />
verstanden, wieso die anderen ihn nicht mögen. Das war früher.<br />
Dann hat er sich zurückgezogen. Darüber kann ich nichts<br />
sagen. Man konnte ihn nicht mehr erreichen.“<br />
Sie schweigen. Es ist zu viel, er kann nicht mehr, seine<br />
Hände verkrampfen sich in seinen Jackentaschen. „Entschuldigung“,<br />
sagt sie. „Ich habe auf Ihre Frage gar nicht<br />
geantwortet.“<br />
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