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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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einen Handwerkergürtel. Im Leder eingearbeitet, erkannte ich<br />

die Signatur meines jüngsten Kollegen. Der Reisende sah mich<br />

an und sagte, er glaube nicht, dass wir die Brücke jemals<br />

vollenden werden.<br />

Über eine Frau<br />

Sie ist eine Königin und ich bin ihr Diener. Unzählige<br />

meines Ranges schart sie um sich, behandelt alle mit derselben<br />

Kühle, die einen zittern lässt. Manchmal läuft sie<br />

in den Hallen des Schlosses an mir vorbei und ich kann ihr<br />

kaum in die Augen sehen, ihren Anblick kaum ertragen, so<br />

schön ist sie. Aber ich glaube, die Kälte im Schloss kommt<br />

aus dem Keller, denn sobald ich die Tür dort passiere,<br />

dringt ein düsteres Pfeifen hervor.<br />

Meine Aufgabe besteht darin, ihre Haare zu kämmen. Tag für<br />

Tag werden sie geschmeidiger, obwohl ich immer dieselbe<br />

Stelle streichle, ohne dass ihr diese Faulheit in meiner<br />

Arbeit auffällt. Zusammen mit zwei anderen Dienern, welche<br />

die Kleider und die Spangen der Königin halten, stehen wir<br />

in ihrem Ankleidezimmer. „Du zitterst“, sagt sie plötzlich.<br />

Es ist das erste Mal, dass sie mich anspricht, wenn sie mich<br />

auch dabei nicht ansieht. Ich bin so überrascht, dass ich<br />

keine Antwort hervorbringe. „Wenn du zitterst, kannst du meine<br />

Haare nicht weiter pflegen. Ich brauche eine ruhige Hand.“<br />

Ich schlucke schwer über dieses Urteil, doch der Freund<br />

mit den Spangen springt für mich ein: „Es ist kalt, Herrin,<br />

irgendwo im Schloss scheint ein Fenster oder eine Tür offen<br />

zu stehen.“<br />

Gemeinsam steigen wir in den düsteren Keller hinab.<br />

Sobald wir den Boden erreichen, erlöschen unsere Kerzen und<br />

wir müssen uns im Dunkeln vorantasten. Der Kleiderdiener hat<br />

das Fenster gefunden und ruft aus einer Ecke zu uns hinüber.<br />

„Soll ich es reparieren lassen? Wir haben einen guten<br />

Schlosser zu Hofe.“ In der Dunkelheit sehen wir ihr starres<br />

Gesicht nicht, als die Königin sagt: „Nein, es war kaputt<br />

und wird es auch bleiben.“<br />

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