open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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„Ich bin so geistig dünn geworden, bin nicht mehr, was ich war.<br />
Diese zerrende Welt nimmt mir mein Ich.<br />
Veränderung ist Leben, kein Schönes.<br />
Will nicht klagen, mach es doch.“<br />
Und zuletzt:<br />
„…sur l’autre rive je t’attendrai.“<br />
(Am anderen Ufer warte ich auf dich.)<br />
Das Schamhafte wehrt sich wie der Teufel dagegen,<br />
geliebt zu werden<br />
Voller Angst starrte sie in den Spiegel. Sie wollte nichts<br />
mit dem weißen Wesen zu tun haben, das zurück in ihre Augen<br />
starrte. Nie. Der raue Stock der Kindheit schimmerte durch<br />
sie hindurch wie eine glitschige Ader, durch die nichts als<br />
Schande floss. Der brennende Wunsch sich zu bedecken, oder<br />
auf der Stelle entzwei zu reißen. Sie wollte nichts mehr,<br />
als ihre Eingeweide auf die Spiegelfläche platschen zu<br />
sehen. Nicht etwa in einer dramatische Explosion. Eher so,<br />
wie ein Kotelett von der Arbeitsfläche auf den Boden fallen<br />
würde. Ein rotziges, dumpfes Platsch. Das würde den Eingeweiden,<br />
da sie zu ihr gehörten, gerecht werden.<br />
Wenn man sie finden würde, wäre sie ein schleimiger<br />
Haufen auf Linoleum, nur die Augen und Zähne würden auf eine<br />
frühere Existenz als Mensch verweisen. Man würde sie aufkehren<br />
müssen und in die Notaufnahme fahren, so tun, als<br />
wollte man etwas reparieren. Hier und da näht und tackert<br />
man ein wenig, auch für die Angehörigen. Dann würden die<br />
Ärzte mit gespielter Überraschung die Schultern hochziehen,<br />
auf die absurde Skulptur deuten und erklären, dass sie ihr<br />
Bestes gegeben hätten. Und man würde ihnen glauben, ein<br />
Formular ausfüllen lassen und sie selbst noch mal einpacken,<br />
vielleicht tiefgefrieren, bis ihre Familie über die<br />
Finanzierung ihrer Bestattung und den Verbleib ihres bescheidenen<br />
Besitzes entschieden hätten. Stattdessen schminkte<br />
sie sich, zog sich mit Bedacht an und ging zur Arbeit.<br />
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