open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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Bettina Müller<br />
Bettinas Bruder ist ein Ausrufezeichen. Alles an ihm<br />
sagt: Hier bin ich! Wir müssen uns unbedingt mal unterhalten!<br />
Hier haben Sie meine Visitenkarte! Auf überfüllten Bürgersteigen<br />
läuft er und die Leute weichen aus. Automatisch. Weil<br />
er auch ohne Wagen Warnblinker setzt, Lichthupe macht und die<br />
Leute sich von seinen kleinen unsichtbaren Ausrufezeichen<br />
beiseite schieben lassen.<br />
„Die Leute“, das sind Menschen wie Bettina. Verkäufer.<br />
Gastronomen. Anwälte. Studenten. Irgendwas. Wenn Bettina auf<br />
überfüllten Bürgersteigen läuft, weicht niemand aus. Sie ist<br />
diejenige, die sich wegdrängen lässt, das war schon immer<br />
so. Am liebsten setzt sie sich in Cafés und beobachtet die<br />
anderen. Im Café muss Bettina angesprochen werden, zumindest<br />
von der Kellnerin.<br />
Sie wird gefragt, was sie möchte. Natürlich könnte man<br />
die Antwort auf diese Frage ausweiten, Bettina fragt sich<br />
jeden Tag, was sie denn eigentlich möchte, vom Leben, von der<br />
Welt. Trotzdem antwortet sie trocken: „Einen Latte“. Weil<br />
man das eben so macht, unter Leuten. Und mehr wollte die<br />
Kellnerin schließlich auch nicht wissen. Als sie sich umdreht,<br />
entdeckt Bettina eine Tätowierung auf dem Steißbein<br />
der Kellnerin, ihr grasgrünes T-Shirt reicht nicht bis zum<br />
Bund ihrer Jeans, dazu das Piercing im Mundwinkel, die blondbrünett<br />
gestreiften Haare und Bettina denkt sich: Schulabbrecherin.<br />
Der Anzugträger am Tisch neben ihr mit dem Laptop:<br />
Versicherungsvertreter.<br />
Die Stempel erscheinen ohne Vorwarnung, eigentlich hasst<br />
Bettina es. Sie hat Achtung! Vorurteile von Peter Ustinov<br />
gelesen und will nicht abstempeln. Vor allem aber will sie<br />
nicht abgestempelt werden. Es gibt nicht nur negative, sondern<br />
auch positive Vorurteile, heißt es in dem Buch. Das<br />
Mädchen an dem Tisch hinten in der Ecke liest Paris – ein Fest<br />
fürs Leben von Hemingway, und Bettina denkt sich, die ist<br />
bestimmt sehr belesen, ein Mädchen aus gutem Hause, dabei<br />
könnte es das erste Buch im Leben des jungen Mädchens sein,<br />
sie liest es nur flüchtig durch für die Schule, weil sie<br />
muss, übermorgen ist die Klausur.<br />
Bettinas Schwester ist ein Fragezeichen. Fragezeichen-<br />
Menschen können äußerst anstrengend sein, oft egozentrisch<br />
und gleichzeitig unsicher. Wie seh ich aus? Ist das zu eng?<br />
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