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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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haften Natur doch vollkommen. Und so wie der Sammler wusste,<br />

dass es noch ein langer, vielleicht unmöglicher Weg zur<br />

vollkommenen Sammlung war, so wusste auch sie, dass sie nur<br />

einen kleinen Schritt nach vorne gemacht hatte. Aber wie die<br />

einzelnen Schritte eines Balletttänzers war auch dieser von<br />

ausgesuchter Wichtigkeit und Anmut. Sie nahm das Rechteck von<br />

der Staffelei, betrachtete es noch einmal und verstaute es<br />

dann vorsichtig in ihrem Leinenbeutel.<br />

Den Rest des Tages war es lächerlich einfacher den Dom zu<br />

malen. Es entstanden an diesem Tag, wie an vielen anderen<br />

zuvor, wundervoll pittoreske Ansichten, ob nun im diesigen<br />

Weiß der ersten Morgenstunden, im grellen harten Licht des<br />

Mittags oder im zarten Rosé der frühen Abendstunden, das<br />

langsam ins Purpur abglitt, um letztendlich in ein samtenes<br />

Nachtblau überzugehen. Als sie mit dem letzten Abendlicht<br />

ihre Staffelei zusammenklappte, sich die Tasche mit ihren<br />

Utensilien über die Schulter hängte und mit Staffelei und<br />

Schemel in den Händen den Platz verließ, war sie glücklich.<br />

Sie lebte, oder besser schlief, in einem gesichtslosen<br />

älteren Wohnungskomplex unweit des Platzes, doch außerhalb<br />

des Stadtkerns, ließ doch die Stadtverwaltung solche Bausünden<br />

dort berechtigterweise nicht zu. Das Haus war ein grauer<br />

Niemand, mit hoher schnörkelloser Fassade, rau verputzt,<br />

über die sich in kongruenten Reihen kleine Fenster zogen.<br />

Sie hatte ihren Heimweg nicht wahrgenommen, weder die paar<br />

Stadtbewohner, die ihre wohlbekannte Gestalt erkannten und<br />

entweder sanft lächelnd und höflich nickend, einen Gruß auf<br />

den Lippen oder heftig den Kopf über ihren seligen Blick<br />

schüttelnd an ihr vorübergingen, noch die Häuser und Gärten,<br />

die den vertrauten Weg säumten. Sie schloss die Tür auf und<br />

betrat das Haus. Sie ging die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf,<br />

öffnete sie und blickte sich verwundert um. Ein Mensch<br />

stand auf dem Treppenabsatz.<br />

„Wissen sie, trotz der Tatsache, dass ich die meiste Zeit<br />

alleine bin, halte ich mich für sehr umgänglich“, sagte er<br />

zu ihr. Er stand breitbeinig, mit leicht vornüber gebeugtem<br />

Oberkörper da. Er stand vor ihr, mit seiner großen dunklen<br />

Gestalt das ganze Treppenhaus einnehmend, das abendliche<br />

Zwielicht warf lange Schatten. Er blickte ihr fest in die<br />

Augen. „Ich habe einfach viel mehr Zeit als die meisten Leute.<br />

Die zugegeben recht raren Kontakte die ich zu meinen<br />

Mitmenschen pflege, kann ich dafür umso intensiver auskosten<br />

und überlegter empfinden.“ (Er schien wirklich wenig<br />

Umgang zu pflegen. Sie hatte ihn bis dahin vielleicht drei-<br />

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