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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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Eine Frau kommt auf uns zugeeilt und löst auf wundersame<br />

Weise Tims Griff und dreht ihn zu sich, so dass sie sich<br />

direkt in die Augen schauen, dann lässt sie ihn sofort los.<br />

Sie singt: „Spiderschwein, Spiderschwein, er macht das, was<br />

ein Spiderschwein kann“, und der Junge fängt langsam an, mit<br />

seinen Armen den Takt mitzuschwingen. Bei der zweiten Strophe<br />

summt er leise mit, bei der dritten stimmt er ins Singen ein.<br />

Die Frau sagt: „Jetzt geh zu Dirk und frag ihn, ob er Lust<br />

hat, mit dir das A-Team zu gucken! Du bist ein guter Junge.“<br />

„Tim ist ein guter Junge“, sagt er in einer monotonen Stimme,<br />

worauf die Frau wiederholt „Ja, du bist ein guter Junge.“<br />

Prompt dreht er sich um und stolpert den Weg zurück, den er<br />

gekommen war. Die Frau und ich schauen ihm noch so lange<br />

nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Dann dreht sich<br />

die Frau zu mir und entschuldigt sich für das, was gerade<br />

passiert ist.<br />

Sie stellt sich als Elke vor. Sie ist eine Heimbetreuerin<br />

von Tim. Sie erzählt mir vom Kinderheim. Auf die Frage, was<br />

ich vorhin falsch gemacht hätte, nennt sie mir die häufigsten<br />

Ursachen für solch einen Anfall: wenn Leute ihn mit<br />

seinem Namen ansprächen oder ihm gegenüber Verneinungen<br />

benutzten. Ich sage ihr, dass ich mich bei Tim entschuldigen<br />

möchte, doch Elke sagt, dass es heute wohl nichts mehr werden<br />

wird, aber sie nimmt mich trotzdem mit. Tim ist erst vor<br />

kurzem ins Heim gekommen, nachdem seine Adoptivmutter, die<br />

er immer als seine Mutter bezeichnet hat, verstorben ist.<br />

Das Jugendamt hatte ihn, als er noch etwas jünger war, seiner<br />

leiblichen Mutter entzogen, da diese mit den Bedürfnissen<br />

des Kindes nicht zurecht gekommen war und ihn ständig angeschrien<br />

und zeitweise geschlagen hatte. Anscheinend hat Tim<br />

eine Art „allergische Reaktion“ auf seinen Namen, wenn ihn<br />

andere Leute aussprechen, da seine biologische Mutter immer<br />

nur dann seinen Namen gerufen hat, wenn es Ärger gab.<br />

Ständig habe sie zu ihm gesagt, dass er dies und das nicht<br />

machen dürfe, und sie hätte oft das Wort „Nein!“ benutzt.<br />

Oder: „Ich verstehe dich nicht!“, so dass auch dieser Satz<br />

für Tim tabu ist. Als ich mir mein Handgelenk reibe, lacht<br />

Elke und zeigt mir ihren Arm. Alles voller blauer Flecken.<br />

Sie erzählt mir, dass sie ganz schön lange gebraucht hat,<br />

um zu verstehen, wann und warum Tim sich selbst und manchmal<br />

andere Menschen zwickt. Er könne nicht viel innere Spannung<br />

aushalten und versuche, diese Spannung durch Schmerz-Zufügen<br />

zu entladen.<br />

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