open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Eine Frau kommt auf uns zugeeilt und löst auf wundersame<br />
Weise Tims Griff und dreht ihn zu sich, so dass sie sich<br />
direkt in die Augen schauen, dann lässt sie ihn sofort los.<br />
Sie singt: „Spiderschwein, Spiderschwein, er macht das, was<br />
ein Spiderschwein kann“, und der Junge fängt langsam an, mit<br />
seinen Armen den Takt mitzuschwingen. Bei der zweiten Strophe<br />
summt er leise mit, bei der dritten stimmt er ins Singen ein.<br />
Die Frau sagt: „Jetzt geh zu Dirk und frag ihn, ob er Lust<br />
hat, mit dir das A-Team zu gucken! Du bist ein guter Junge.“<br />
„Tim ist ein guter Junge“, sagt er in einer monotonen Stimme,<br />
worauf die Frau wiederholt „Ja, du bist ein guter Junge.“<br />
Prompt dreht er sich um und stolpert den Weg zurück, den er<br />
gekommen war. Die Frau und ich schauen ihm noch so lange<br />
nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Dann dreht sich<br />
die Frau zu mir und entschuldigt sich für das, was gerade<br />
passiert ist.<br />
Sie stellt sich als Elke vor. Sie ist eine Heimbetreuerin<br />
von Tim. Sie erzählt mir vom Kinderheim. Auf die Frage, was<br />
ich vorhin falsch gemacht hätte, nennt sie mir die häufigsten<br />
Ursachen für solch einen Anfall: wenn Leute ihn mit<br />
seinem Namen ansprächen oder ihm gegenüber Verneinungen<br />
benutzten. Ich sage ihr, dass ich mich bei Tim entschuldigen<br />
möchte, doch Elke sagt, dass es heute wohl nichts mehr werden<br />
wird, aber sie nimmt mich trotzdem mit. Tim ist erst vor<br />
kurzem ins Heim gekommen, nachdem seine Adoptivmutter, die<br />
er immer als seine Mutter bezeichnet hat, verstorben ist.<br />
Das Jugendamt hatte ihn, als er noch etwas jünger war, seiner<br />
leiblichen Mutter entzogen, da diese mit den Bedürfnissen<br />
des Kindes nicht zurecht gekommen war und ihn ständig angeschrien<br />
und zeitweise geschlagen hatte. Anscheinend hat Tim<br />
eine Art „allergische Reaktion“ auf seinen Namen, wenn ihn<br />
andere Leute aussprechen, da seine biologische Mutter immer<br />
nur dann seinen Namen gerufen hat, wenn es Ärger gab.<br />
Ständig habe sie zu ihm gesagt, dass er dies und das nicht<br />
machen dürfe, und sie hätte oft das Wort „Nein!“ benutzt.<br />
Oder: „Ich verstehe dich nicht!“, so dass auch dieser Satz<br />
für Tim tabu ist. Als ich mir mein Handgelenk reibe, lacht<br />
Elke und zeigt mir ihren Arm. Alles voller blauer Flecken.<br />
Sie erzählt mir, dass sie ganz schön lange gebraucht hat,<br />
um zu verstehen, wann und warum Tim sich selbst und manchmal<br />
andere Menschen zwickt. Er könne nicht viel innere Spannung<br />
aushalten und versuche, diese Spannung durch Schmerz-Zufügen<br />
zu entladen.<br />
85