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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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Sie hatte es sich zur Aufgabe gewählt, eben diese Entrücktheit,<br />

dieses kühne Vordringen auf transzendenten Boden, auf<br />

ihr bescheidenes Medium zu bannen. Sie ging dieser Aufgabe<br />

schon lange nach. Sie saß auf dem Platz und malte kleine<br />

Miniaturen des Domes auf Postkarten. Aus Notwendigkeit verkaufte<br />

sie diese an die Touristen, die, immer noch gefesselt<br />

und berührt, ein kleines Andenken wünschten, um ihren Angehörigen<br />

etwas mitbringen zu können, damit der sicherlich<br />

bildhafte Bericht eine gewisse Handfestigkeit erlangte. Oder<br />

sie wünschten sich ein lebhafteres Bild als die bloße Erinnerung.<br />

Nicht allen erging es so. Manches schlichte Gemüt<br />

erblickte den Dom, betrachtete ihn, bejahte seine Größe,<br />

schätzte seine Maße, fragte sich, wie viel Material und Zeit<br />

der Bau wohl beansprucht hatte, beschloss, dass er beeindruckend<br />

war, wendete ihm den Rücken zu und vergaß ihn augenblicklich.<br />

Daraufhin übersah er die Frau, die in der Mitte<br />

des Platzes, mit leicht nördlicher Tendenz, auf einem Schemel<br />

saß und unermüdlich malte. Krähenfüße umrissen scharf ihre<br />

Augen, und die Farben hatten sich tief in ihre Finger eingebrannt.<br />

Täglich stand sie weit vor Sonnenaufgang auf, um<br />

pünktlich auf dem Platz zu sein. Immer war die Zeit zu knapp,<br />

sie rannte unermüdlich gegen sie an, malte mit fliegenden<br />

Händen, verlor letzten Endes doch. Sie konnte das Motiv nie<br />

so darstellen, dass es ihrem Auge gerecht wurde, wenn sie<br />

es überhaupt in seiner ganzen Form gemalt hatte. Mit der<br />

Zeit jedoch konnte sie langsam Fortschritte in ihrer Kunst<br />

erkennen, zunächst kaum erahnbar, später immer deutlicher.<br />

So hoffte sie, dass sie am Ende doch erfolgreich sein würde<br />

und stand nach jedem Scheitern erneut wieder in aller Frühe<br />

auf, um auf den Platz zu gehen, zu ihrem Dom. Das Licht der<br />

Sonne wandelte sich zwar auch über den Tag hinweg, jedoch<br />

so gemächlich, dass es innerhalb von Minuten kaum merklich<br />

war. Dadurch war es ihr gelungen, den Dom zu jeder anderen<br />

Tageszeit zu malen. Sie erschuf täglich Repliken ihrer<br />

Bilder. Sie saß im morgendlichen Zwielicht auf dem hölzernen<br />

Schemel, auf dem sie immer saß. Die Sitzfläche glänzte,<br />

das häufige Herüberfahren mehr oder weniger rauen Stoffes<br />

hatte das einstmals raue Holz poliert. Vor ihr stand ihre<br />

alte Staffelei, ein windschiefes Ding mit verschieden langen<br />

Beinen, das auf der leichten Schräge des Pflasters immer<br />

ein wenig wackelte. Sie griff in die Leinentasche links<br />

neben ihrem Schemel und holte ein weißes Papierrechteck heraus,<br />

das sie auf die Staffelei stellte. Dann entnahm sie<br />

demselben Beutel eine Reihe von Farbtuben und Pinseln und<br />

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