open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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Weihnacht<br />
Elen will dieses Jahr gern größer als der Christbaum sein.<br />
Sie will die Silberspitze auf ihn setzen können, ohne dazu<br />
die Leiter aus dem Schuppen herzutragen. Drum holt sie ein<br />
paar Mark aus ihrer Büchse und läuft zur Kellerstraße zum<br />
Verkauf. Mit dem Gesparten in der Hand springt sie dem<br />
Baumverkäufer fast in die Arme, so aufgeregt ist sie. Bisher<br />
nämlich gab’s immerzu nur Tannengrün zum Tischgedeck, wenn<br />
nicht sogar nur Reisig. Da freut sie sich besonders, als ihr<br />
der Baumverkäufer einen Apfel schenkt, um an den Baum zu<br />
hängen, da ja zuhause gar kein Baumschmuck aufzufinden ist.<br />
Nur leider merkt Elen auf dem Nachhauseweg, dass ihr der<br />
Magen heftig grummelt, so steckt sie sich den Apfel in den<br />
Mund und schluckt ihn fast mit einem Male runter. Jetzt hat<br />
sie gar nichts mehr, bloß noch eine Idee: Der Bauer Franz<br />
hat doch bestimmt noch Stroh im Stall, ein wenig wird sie<br />
da wohl haben dürfen. Tatsächlich schenkt er ihr etwas,<br />
sogar sehr viel, die Tüte quillt schon über.<br />
Zuhaus beginnt Elen sogleich, Strohsterne herzustellen,<br />
auch wenn sie etwas schief und lose sind. Mit Stroh binden,<br />
das hat wohl keiner jemals gut gekonnt. Das Abendläuten rückt<br />
einen schon zum Tag hinaus, als Elen stolz ihr Werk betrachtet.<br />
Der Baum ist gänzlich strohern, die bunten Kerzen fast<br />
schon zu alt, um ihren Kampf dem Dunkel anzusagen. Dennoch<br />
fehlt eine Spitze, die Spitze, die den Baum erst kaufen<br />
ließ. Elen vergaß, dass es sie gar nicht gibt, schon gar<br />
nicht silbern. Das einzig Silberne, das sie besitzt, ist<br />
eine Silberdistel, obwohl ihr nicht mal diese eigentlich<br />
gehört. Elen weiß nur, dass sie auf einer Wiese in die Lüfte<br />
ragt und ihre Blicke oft schon band.<br />
Es ist schon gar so spät, dass Elen aus der Türe schleichen<br />
muss, die Mutter hätt’ niemals sie in die Dunkelheit<br />
entlassen. Die Kälte ist sehr tief, vielleicht tiefer denn<br />
je, denn Elen hatte nicht Gelegenheit gehabt, sich Stiefel<br />
anzuziehen und den Mantel. Die Haussocken halten den Schnee<br />
nicht warm, obwohl Elen sich sicher war, dass Omas Selbstgestricktes<br />
sogar die Winterkälte schmelzen ließe. Ein Glück,<br />
ist diese Blume nah am Haus. Elen tut das Pflücken fast ein<br />
bisschen leid, die Blume hat sich bestimmt gut in die Wiese<br />
eingelebt und würde sich vielleicht mit einem Tannenbaum<br />
nicht allzu gut vertragen. Aber es liegt ihr ob, dem Christbaum<br />
eine Spitze auch zu schenken und als der Baum die<br />
Distel trägt, zwar noch ein bisschen unsicher, verlegen, da<br />
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