open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

Die Nacht um Verzeihung bitten
Sie wollte die Augen in Reinschrift schreiben.
Die dumme Lisa hatte das mal machen müssen. Sie hatte der
Lehrerin eine Arbeit gegeben, die man nicht hatte lesen können.
Die Lehrerin gab sie mit den Worten zurück: „Schreib das
ins Reine, Lisa. Man kann ja nichts lesen.“
Elen konnte ihn nicht lesen, nichts konnte sie an ihm entziffern.
Sie sah ihn an und sah Verworrenes an, Zerstobenes,
sah etwas an, das es nicht gab. Sie wusste keine Farben für
die Augen, solch Hände hatte sie noch nie gesehen. Die Form
des Kopfes ließ nichts zu, der Mund gab Worte, die nicht
wuchsen, auch wenn sie Elen täglich goss.
Alles, was Elen je von ihm bekam, jedwed Geräusch, jeglich
Geruch und all Geschriebenes, Gesagtes, das sie sorgsam sich
ersucht, geerntet, es war so überaus gewichtig, dass sie es
fallen lassen musste, gerade dort, wo sie es aufgehoben.
Nicht einen Tag gelang es ihr, ihn mitzunehmen an der Hand,
nicht einen einzig Augenblick. Sie streifte bloß an ihm vorüber
so wie man Haare aus Gesichtern streift.
Da nahm sie sich vor, seine Augen in Reinschrift zu schreiben.
Doch als sie sich beim letzten Pigment dann vertat, da
knüllte sie alles zusammen und warf es zum Brennholz.
Und wusste erst dann, wie überaus wichtig Verworrenes war
und Zerstobenes. Wie bedeutsam, die Hand nie zu greifen, auf
dass die Luft genug Raum zum Umhüllen, Umspielen auch hat.
Wie nötig, die Augen – zumindest die Augen – aus Zeiten der
Farblosigkeit nicht zu wecken, wie unbedingt sinnvoll, das,
was man bekommt, in den Tagen zu lassen, in die es geboren,
nichts mit sich zu schleifen wie der Mond den Schatten der
Erde.
Und da nahm sie sich vor, um Verzeihung zu bitten. Ihn und
die Nacht und alle, die dies schon immer gewusst.
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