open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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U7<br />
Ihr Menschen in der U Bahn seid hässliche Geister, die den<br />
Glauben an sich selbst verloren haben.<br />
Ab und an tanzt ein geistig Behinderter oder ein Betrunkener<br />
vorbei, an dem ihr gekonnt vorüberschielt.<br />
Ich will euch nicht sehen, Gespenster der Morgenstunden.<br />
Vier grünblaue Wände. Ich starre von einer zur Nächsten.<br />
Auf keinen Fall möchte ich in den Augen eines dieser Menschen<br />
hängen bleiben.<br />
Dicker Mann, Ende Dreißig, schwirrt mit indiskretem Blick<br />
beständig in mein Sichtfeld.<br />
Als ob ich es nicht merkte. Am liebsten würde ich mich<br />
zu ihm drehen und ihm so lange unverfroren in die Augen<br />
starren, bis er sein eigenes Spiegelbild darin erkennt. Dann<br />
wäre es ihm nicht länger möglich, sich auf mir auszuruhen.<br />
Auf der Bank gegenüber kauert eine zittrige Gestalt. Die<br />
Augen glasig, verwaschenes Blau, fixieren einen Punkt unweit<br />
von mir. Eine alte Frau, nicht älter als Siebzig. Sie zieht<br />
unablässig ihre roséfarbenen Lippen in ihre zahnlose Mundhöhle,<br />
um sie dann, wie zu einem Kuss gespitzt, wieder an<br />
der Außenwelt teilhaben zu lassen. Ich sinne nach, ob sie<br />
schön war, bevor Alter und Zweifel ihre glatte Haut in schlaffes<br />
Leder verwandelt haben. Merkt man es selbst gar nicht,<br />
dass man immer magerer wird und die Augen sich in ihre Höhlen<br />
zurückziehen, dass man sich zu einem untoten Schatten des<br />
lebendigen Menschen entwickelt, der man einmal war?<br />
Wenn der Dicke nicht hier mit mir eingesperrt wäre, würde<br />
er seine Brille putzen und Stromrechnungen bezahlen. Jetzt<br />
aber befindet er sich, im Grunde verängstigt bis aufs Blut,<br />
auf dem Weg zur Arbeit. Er ahnt nicht, welche Macht ihm<br />
gerade zuteil wird. Seine reine Präsenz, gepaart mit seinen<br />
unverschämten Glotzaugen, verursacht einen stechenden Schmerz<br />
in meinem Solar Plexus. Ich wünschte, ihm einige Schritte<br />
voraus gewesen zu sein.<br />
Eine russische Frau mit rot geschminkten Lippen, einem<br />
Pelzmantel und einer Lederhandtasche quetscht sich neben mir<br />
auf den Sitz. Ich stelle mir vor, wie ich sie ohne Vorwarnung<br />
mit dem Blut der Tiere übergieße, aus denen ihr Mantel<br />
besteht. Ihre Mundwinkel haben sich entsprechend eindeutig<br />
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