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open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation

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Das Heim ist ein großes Haus, alles ist gemütlich eingerichtet.<br />

Als wir ins Wohnzimmer kommen, sehe ich Tim mit<br />

einem Mann zusammen das A-Team schauen. Der Mann, vermutlich<br />

Dirk, begrüßt uns, dreht sich dann wieder dem Fernseher<br />

zu. Tim nimmt keine Notiz von uns. Ab und zu, bei einer aufregenden<br />

oder lustigen Szene, schwingt er seine Arme wild.<br />

Diesen Abend komme ich nicht mehr dazu, mit Tim zu sprechen.<br />

Nach einer Tasse Tee verabschiede ich mich und Elke ruft mir<br />

hinterher, dass ich bald wieder vorbeikommen solle, wenn ich<br />

Lust oder Langeweile hätte. Auf dem Heimweg fühle ich mich,<br />

als ob meine Wahrnehmung verrückt wurde. Zuerst der tiefe<br />

Ton, den ich einen Tag zuvor gehört hatte. Ich habe das<br />

Gefühl, diesen Ton schon einmal gehört zu haben, aber jetzt<br />

hat er für mich eine andere Tiefe. Als ob jemand in mein<br />

Wahrnehmungssystem einen neuen Stein eingesetzt hätte. Als<br />

ob sich mein gesamtes Wahrnehmungsmuster verändert hätte. Ich<br />

fühle mich merkwürdig unorientiert und chaotisch, aber nicht<br />

schlecht.<br />

Am nächsten Abend gehe ich wieder zur Kapelle und höre<br />

auf halben Weg Tims Klänge. Genauso tief und traurig wie<br />

zuvor. Das alles erinnert mich an dich. Tim ist so wie du,<br />

nur, dass du immer alles unter deinem schwarzen Ledermantel<br />

versteckt hast. Ich klopfe an die Tür, trete langsam hinein.<br />

Ich weiß nicht, ob Tim mich gehört hat, zumindest versinkt<br />

er gerade im Klavier und beachtet mich gar nicht. Erst<br />

als er abrupt aufhört, dreht er sich zu mir. „Hallo“, sage<br />

ich und verkneife mir seinen Namen. „Hallo Tim“, sagt er,<br />

dreht sich wieder dem Klavier zu und spielt weiter. Ich<br />

setze mich zu ihm, in einem Abstand von vier Stühlen. Das<br />

scheint ihn nicht zu stören. Ich nähere mich immer weiter.<br />

Drei Stühle. Keine Reaktion. Zwei Stühle. Immer noch nichts.<br />

Als ich mich weiter nähere, bleiben seine Hände mitten im<br />

Spielen in der Luft stehen. Seine Augen fixieren mich.<br />

„Alles ist gut, alles ist gut, Tim“, sagt er sich selbst.<br />

„Ja, alles ist gut, du spielst prima“, sage ich. Er dreht<br />

sich wieder zum Klavier und beschwört diese unheimlichen<br />

Farbflächen. Ich schließe die Augen. Ich kann nicht sagen,<br />

dass ich mich wohl fühle, vielmehr habe ich das Gefühl,<br />

ständig zu kämpfen, um nicht unterzugehen. Das Ringen um<br />

Luft, das Ringen um Orientierung, das Ringen um sich selbst,<br />

das Ringen um was? Es fallen mir keine Worte ein, wie ich<br />

dieses Erlebnis beschreiben könnte. Es ist, als ob ich ein<br />

winziges Etwas von Tim verstanden, mitbekommen, ja erlebt<br />

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